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Newcastle, 6. Oktober 1927

 

»Sir, ich habe alles erledigt, wie Sie es sagten. Kann ich sonst noch etwas tun?«

Demütig, wie er sich in Anwesenheit seines Meisters fühlte, traute sich Adam Winterfield kaum, sein Kinn zu heben und zu dem Mann aufzuschauen, der sich seiner erst vor wenigen Wochen angenommen hatte.

Einen vierundzwanzigjährigen Aushilfsarbeiter ohne nachweisbare Bildung aufzunehmen, ihn nicht nur mit dem Handwerk vertraut zu machen, sondern auch mit dem kaufmännischen Part und der Buchführung, ihm ein Dach über dem Kopf zu bieten und mindestens eine warme Mahlzeit am Tag, dazu all die Bücher, mit denen er sein Allgemeinwissen aufbessern sollte … Das zeugte von besonderer Gutherzigkeit. Nichtsdestotrotz misstraute Adam seinem Glück bis jetzt. Viel zu lange schon hatte ihm das Schicksal übel mitgespielt. Nun erwartete er beinahe, jeden Moment zu scheitern. Einen Fehler so gravierenden Ausmaßes zu begehen, dass man ihn dafür in hohem Bogen vor die Tür setzen würde. Zurück auf die Straße – dorthin, wo er herkam.

Straßenköter, Gassenjunge, Bastard …

In Adams Kopf hallten die Beschimpfungen wider, die sein Leben so lange begleitet hatten. Doch auch in diesem Moment erwiderte der Meister seinen Blick mit reiner Sanftmut.

»Nein, sonst gibt es hier nichts mehr zu tun. Geh nur! Wasch dich, iss ordentlich und mach die Nacht nicht zum Tage. Denn morgen geht es weiter.«

»Ich danke Ihnen, Sir! Einen schönen Abend wünsche ich.«

»Den wünsche ich dir auch. … Ach, und Adam?«

Die Schultern des jungen Mannes zuckten; reflexartig zog er den Kopf ein, als sein Name noch einmal fiel. Hatte er etwas vergessen, etwas Entscheidendes womöglich? Seine letzten Aufgaben schossen ihm noch einmal durch den Kopf; schnell wie Blitze durchzuckten sie ihn:

Kehren – erledigt.Neues Holz in den Kamin legen, damit es über Nacht trocknen kann – erledigt.Den Müll entsorgen – erledigt.

»Ja, Sir?«, antwortete er dennoch mit banger Stimme.

»Du hast heute sehr gut gearbeitet. Weiter so!«

Erleichtert atmete er auf. Ein Lob. Ein echtes Lob.

»Vielen Dank. Gute Nacht!«

Leichten Herzens schloss er die Tür hinter sich und stieg über die hölzerne Treppe in das Obergeschoss des Hauses empor. Hier, am Ende des schmalen Korridors, lag sein Zimmer, direkt neben dem des Meisters. Gegen die zentraleren Bauten der Stadt wirkte das Haus nahezu veraltet. Dort, in Hafennähe, wo sich die Baukräne quasi aneinanderreihten und ein vielstöckiges Gebäude neben dem anderen entstand, sprachen die Menschen geringschätzig über die östlichen Vorstadthäuser, die durch den Lake Washington vom Rest der Stadt so gut wie abgetrennt waren und deren Wände teilweise nicht einmal fließendes Wasser und elektrischen Strom führten.

Adams Zimmer verfügte zwar über Strom, doch an ein eigenes Bad war nicht einmal zu denken.

Dennoch füllte er das Wasser mit einem Gefühl des Stolzes von dem rissigen Porzellankrug in die große Emailleschüssel. Immerhin konnte er sich waschen. Er besaß sogar ein Stück Seife. Dieses nahm er nun zur Hand, wusch sich damit den feinen Staub von den Armen, den Händen, dem Gesicht und seinen Haaren. Mit einem Handtuch rubbelte er über seine Locken und betrachtete sich im Spiegel über der Waschschüssel.

Zunächst seine spröden Lippen. Der Meister ermahnte ihn ständig, mehr Flüssigkeit zu sich zu nehmen, doch er war ja selbst kein gutes Vorbild, und Adam war das regelmäßige Trinken schlichtweg nicht gewohnt.

Sein Blick glitt weiter über die nach wie vor gerade Nase, die von dem Bruch vor drei Jahren lediglich eine leichte Verdickung der Nasenwurzel davongetragen hatte, und die tiefliegenden grünen Augen mit den mittlerweile markanten dunklen Schatten darunter.

Adam war müde. Himmel, war er müde.

Aber er wollte vorbereitet sein, sollte der Moment des Wiedersehens tatsächlich so unverhofft kommen, wie er es sich in all seinen Träumen – und die ereilten ihn bei Gott nicht nur nachts – immer wieder ausmalte.

Jedes Mal war sie plötzlich da. Klopfte an seine Tür und stand vor ihm, wenn er öffnete. Einfach so, völlig unvermittelt. Sie sahen sich an, fielen einander in die Arme, küssten sich, hielten sich. Liebten sich. Am helllichten Tage, in dunkelster Nacht, immer wieder. Ein Leben lang.

Gedankenverloren glitten Adams Zeige- und Mittelfinger über seine Unterlippe – federleicht –, denn es war wie ein Zauber: Wann immer er an ihre Küsse dachte, spürte er tatsächlich ein Kribbeln in seinen Lippen, als säßen Schmetterlinge wie Boten des Vergangenen auf seinem Mund und kitzelten ihn mit ihren sanften Flügelschlägen. Dann hörte er noch einmal die Musik, die an diesem schicksalshaften Abend ihrer ersten Begegnung gespielt hatte, roch noch einmal Graceys Haar, das so verführerisch nach Vanille und Rosen geduftet hatte.

Natürlich war die Erinnerung nie mehr als ein vager Schatten des realen Erlebnisses. Dennoch reichte sie jedes Mal wieder aus, ihn in den leicht dümmlich vor sich hin lächelnden Jungen zu verwandeln, den er schon längst hatte hinter sich lassen wollen. Verärgert über sich selbst, schüttelte er so stark den Kopf, dass das Wasser von seinen Haaren spritzte und den Spiegel besprenkelte.

»Schluss mit der Träumerei!«, gebot er sich streng, während er die Tropfen von dem hinterlegten Glas wischte.

Nein, für Gracey wollte Adam nicht länger ein schwärmender Junge sein, für sie wollte er endlich zum Mann werden. Für sie wollte er lernen, lernen und noch mal lernen. Geld verdienen, ein besserer Mensch werden und schließlich ein ihr würdiger Ehemann. Handeln, anstatt zu träumen. Das war sein Plan.

Doch was so simpel klang, war leider ein ziemlich schwieriges Unterfangen. Wie auch nicht, wenn man direkt aus der Gosse kam und sich zum Ziel gesetzt hatte, eines Tages auf rechtmäßigem Wege und zumindest mit der vagen Hoffnung auf Erfolg um die Hand eines der reichsten und hübschesten Mädchen der Stadt anzuhalten.

Zuvor hatte er es auf die einzige ihm vertraute Art und Weise versucht und seinen Stand damit so sehr verschlechtert, dass er nach dem Scheitern dieser erbärmlichen Taktik beschlossen hatte, sich zunächst auf unbestimmte Zeit zurückzuziehen und Gras über die Angelegenheit wachsen zu lassen. Er hatte sie alle getäuscht. Die kluge Mutter, den von Natur aus gutmütigen Vater und selbst Graceys alte Anstandsdame.

Alle, außer sie selbst. Sie hatte er nicht täuschen brauchen, war sie doch von sich aus eine kleine Rebellin, die eher ihrem übermütigen Herzen gehorchte als den vernünftigen Worten ihrer verstockt wirkenden Mutter. Nein, Gracey war nicht wie sie. Nicht so ernst und zugeknöpft.

»Pffff«, machte Adam und raufte sich die feuchten Haare, als ihn der letzte Begriff buchstäblich durchzuckte. ›Zugeknöpft‹, das erinnerte ihn an ›aufgeknöpft‹ … und dieser Gedanke war … nun ja, nicht gerade förderlich, wenn man in seiner Situation steckte und verzweifelt um einen klaren Kopf rang. Aber es stimmte: Gracey war wunderbar temperamentvoll und ungehorsam. Sonst hätten die Bilder, die sich nun wieder in seinem Kopf ausbreiteten, nicht realen Begebenheiten entspringen und niemals Erinnerungen sein können.

Gracey merkte man an, dass ihr alter Herr aus Oklahoma stammte; durch ihre Adern floss unverkennbar das Blut einer Südstaatlerin.

Ein stolzes Lächeln eroberte Adams Gesicht, als er daran zurückdachte, wie sie ihn in den kleinen Raum neben der Küche gezerrt und zwischen Besen, Leitern und Putzeimern stürmisch geküsst hatte. Vollkommen überrumpelt hatte sie ihn damit, auf so wunderbare Art.

Doch das war lange her. Viel zu lange, wenn es nach Adam ging. Wie zur Bestätigung löste sich das Kribbeln seiner Lippen auf, wie Brausepulver in Wasser. Plötzlich war es ausgelöscht und hinterließ nur ein furchtbar bitteres Gefühl tiefster Einsamkeit. Adam war es nicht fremd, auf sich allein gestellt zu sein, dennoch verabscheute er dieses Gefühl.

Gracey hingegen war noch nie zuvor in ihrem Leben mit wahrem Verlust konfrontiert gewesen, das hatte sie ihm selbst erzählt. Umso mehr wunderte es ihn, schon seit Wochen nichts mehr von ihr gehört zu haben. Sehnte sie sich denn nicht ebenso nach ihm, wie er sich nach ihr verzehrte?

Bei ihrer letzten heimlichen Begegnung hatte sie noch hoch und heilig versprochen, einen Weg zu ihm zu finden – Verbot hin oder her.

Dieses Treffen lag beinahe zwei Monate zurück.

Adam wusste, dass sein Freund David ihr die Nachricht über seinen momentanen Aufenthaltsort erfolgreich übermittelt hatte. Ihm konnte er vertrauen. Gracey hatte also Kenntnis darüber, wo er lebte und dass er dabei war, seinen Plan für ihre gemeinsame Zukunft, einen neuen Anfang, in die Tat umzusetzen. Für sie!

Was war also geschehen? Warum meldete sie sich nicht mehr?

Seufzend legte Adam die Seife in die kleine Schale und hängte das Handtuch zurück an seinen Haken. Dann schnitt er sich eine dicke Scheibe Brot ab, sammelte mit angefeuchteter Fingerspitze akribisch die Krumen vom Brett, wickelte den Rest des Laibs zurück in das Tuch und trat vor das einzige, winzige Fenster seines Zimmers. Trotz der Kälte und des rauen Windes, der um das Haus pfiff, öffnete er das Fenster und beugte sich mit freiem Oberkörper in unfassbarer Sehnsucht den letzten Strahlen der untergehenden Sonne entgegen, als wollte er einen davon erfassen und den glühenden Stern daran zurück an den höchsten Punkt des Himmels ziehen.

Wieder ein Tag, der sich viel zu schnell dem Ende neigte. Wieder ein Tag, der ohne eine Nachricht von ihr verstrich.

Als er gegessen und auch einen Schluck Wasser getrunken hatte, schloss Adam das Fenster und trat entschlossen hinter seinen Sekretär.

Es war ein schönes Möbelstück. Sein erstes eigenes, und Adam war sehr stolz darauf. Zwar schlief er dafür nach wie vor auf dem Boden, auf einer mit Stroh gefüllten Matratze, aber das war ihm egal. Er kannte es ohnehin nicht anders; darum hatte er sich für den Sekretär entschieden, als es um seinen ersten Lohn ging.

Die Briefe an Gracey und sein Selbststudium besaßen höchste Priorität. Seinen Schulabschluss wollte er so schnell wie möglich absolvieren. Der Schlaf kam nach Tagen wie diesem – und im Prinzip glich ein Tag dem anderen – ohnehin von ganz allein und oft viel früher, als ihm lieb war. Da brauchte er keine butterweiche Matratze auf einem edlen Bettgestell, die ihn zum Schlafen einlud und ihm das Erwachen noch zusätzlich erschwerte.

Schreiben musste er. Schreiben, rechnen und lernen in einer vernünftigen Haltung, in der er sich möglichst lange und gut konzentrieren konnte.

Oh ja, Adam Winterfield war entschlossen. Und er war verstört und verzweifelt, weil er schon so lange nichts von seinem Mädchen gehört hatte. Vermutlich hätte er selbst nicht sagen können, welches dieser Gefühle in seinem Inneren überwog, denn die Liebe zu Grace Alice Sanders überschattete und betäubte ohnehin alle anderen Gefühle, die sein junges Herz bereits kennengelernt hatte: Trauer, Angst, den bitteren Geschmack des Verrats, unsagbare Einsamkeit.

Und inmitten all dieses Elends jenes Quäntchen Glück, das ihn bis zum heutigen Tag lebendig gehalten und zur rechten Zeit an den rechten Ort geführt hatte. Zuerst in Graceys Arme und dann in dieses wunderbare, wenn auch ein wenig veraltete Haus am südöstlichen Rand von Seattle.

Hart wie sein Leben war, fühlte sich Adam dennoch privilegiert.

Und so nahm er – seiner Erschöpfung zum Trotz – auch an diesem stürmischen Herbstabend hinter seinem Sekretär Platz, zog einen Bogen Papier aus einer der oberen Schubladen und begann ohne Zögern zu schreiben:

 

 

Newcastle, WA, 6. Oktober 1927

 

An das Mädchen meines Herzens, die bezaubernde Grace!

Wie sehr wünschte ich, Du würdest nun neben mir sitzen, mich noch einmal so ansehen wie vor all diesen Wochen und mir ganz beiläufig von Deinen schönsten Momenten dieses fast schon verstrichenen Tages berichten. Denn dann würde es sich sicherlich schließen, dieses dumme Loch in meiner Brust.

Entstanden durch die fehlende Nähe zu Dir, mit jeder weiteren Minute durch meine Sehnsucht genährt, wurde es auch heute immer tiefer und schmerzhafter, wie eine klaffende Wunde.

An jedem einsamen Abend glaube ich fest, keinen weiteren Sonnenuntergang mehr ohne Dich zu überstehen. Doch Du bist nicht da, bleibst verschollen, bist fast so weit entfernt wie der Mond von der Erde, zumindest fühlt es sich so an. Dennoch muss ich weitermachen. Ich atme, überrede mich zu jedem einzelnen Schritt, zu jedem Bissen Brot und zu jedem Schluck Wasser. Jeder Schlag, den ich mit meinem Hammer ausführe, und jeder Pinselstrich, den ich ziehe – alles wird von der Hoffnung bestimmt und getragen, Dich bald wiederzusehen. In meinen Träumen wird nämlich alles gut, solange Du nur weiterhin davon überzeugt bist, ich sei der einzige Mann, der es schaffen kann, Glück und Zufriedenheit zurück in Dein Leben zu bringen, und vor allem, dort zu halten.

Denn kommt es nicht allein darauf an, liebste Gracey? Auf das große Glück der einzig wahren Liebe, nach dem alle Menschen so sehr streben? Wie unermesslich groß war unser Glück an dem Tag des großen Balles, als wir einander zum ersten Mal begegneten, hast Du Dich das schon einmal gefragt? Ich selbst stelle mir diese Frage ständig, und egal, wie die Dinge auch für uns ausgehen mögen, meinen Lebtag lang möchte ich diesen Moment nicht vergessen, als ich auf Dich traf und Du auf mich, unter all diesen Menschen. Wie gut meinte es der Himmel damals mit uns, meine Gracey?

Ja, ich schreibe noch immer ›meine Gracey‹, denn tief in meinem Herzen hoffe ich, dass es der Wahrheit entspricht. Du, meine Liebste, magst von Hause aus eine gewisse Etikette gewohnt sein. ›Anstand‹ nennt ihr es, ich nenne es Heuchelei und sehe Dich dabei in Gedanken vor mir, wie Du vor Empörung die Hände in die Hüften stützt und mit funkelnden Augen den Kopf zur Seite neigst. Aber lass mich erklären! Ich rede von all den vielen überschwänglichen Floskeln und Worten, die in Euren Kreisen immer wieder gesagt, in den seltensten Fällen aber auch gemeint werden. Es tut mir leid, aber dies entspricht nicht der Weise, in der ich erzogen wurde. Meine Mutter, Gott hab sie selig, war zwar eine einfache, aber doch sehr kluge Frau. Sie pflegte stets zu sagen: ›Sprich die Wahrheit, offen und ehrlich, dann wird Dir niemand auf lange bös sein können. Und sind sie es doch, so lass sie nur zieh’n. Echte Freunde vertragen jedes aufrichtige Wort.‹

Süße Gracey, ich möchte dem Rat meiner Mutter nun folgen, indem ich Dir schreibe, was Du hoffentlich schon längst weißt:

Ich liebe dich, Grace Alice Sanders. Ich liebe dich mehr als das Leben selbst.

Was uns verbindet, ist groß und rein und so gut, wie nur irgendetwas gut sein kann. Niemandem wird es je gelingen, mir etwas anderes einzureden.

Ich wünschte, du wärest gerade jetzt an meiner Seite und würdest mir zusehen, wie ich nun, wo die Kälte langsam Einzug in die Häuser hält, das Feuer in dem alten Kamin meines Zimmers schüre. Du könntest Deinen Kopf auf meinen Schoß betten und mir lauschen, wenn ich Dir bis spät in die Nacht hinein Deine geliebten Gedichte vorlese. Ich verspreche, ich werde sie Dir Abend für Abend vorlesen, ohne dessen müde zu werden, bis an das Ende unserer Tage.

Ja, Du solltest hier sein, mir von den kleinen Wundern Deines Tages berichten und das schreckliche Loch in meinem Herzen mit Deiner Nähe ausfüllen. Ich vermisse Dich so sehr.

Den Blick auf den schmalen Streifen des schwindenden Lichts am Horizont gerichtet, frage ich mich, wie viele einsame Sonnenuntergänge mir noch bevorstehen, Gracey? Wann erlöst Du mich?

Doch vor allem frage ich mich, ob ich es wohl jemals wagen werde, David mit einem weiteren Botengang zu beauftragen und Dir auch nur einen dieser erbärmlich schwülstigen Briefe zukommen zu lassen.

 

In ewiger Liebe,

Dein Adam

 

 

 

Kapitel I

 

– Jeremy –

Downtown Seattle, 6. Oktober 2013

 

»Was ich an deiner Stelle tun würde? Pfff, keinen Schimmer, Jerry!«

Gut, das ist nicht gerade die hilfreichste Antwort, aber zumindest ist er ehrlich. Und Ehrlichkeit scheint in dieser Welt ein rares, wertvolles Gut zu sein, wie ich soeben schmerzlich erfahren musste.

Was soll er auch sagen? Die ganze Scheißsituation ist total verzwickt.

Mein bester Freund sitzt mir in unserer Stammkneipe gegenüber, dreht den Hals seiner Bierflasche zwischen Daumen und Zeigefinger und zuckt schließlich mit den Schultern. »Es ist immerhin dein Appartement, also sag ihr doch einfach, sie soll ihr Zeug packen und verschwinden. Am besten noch heute Abend. Und, ach ja, kündige ihr!«

»Rob, ist das dein Ernst? Wo soll sie denn bitte hin? Mitten in Seattle, von jetzt auf gleich, und dann auch noch ohne Job? Sie kennt doch hier niemanden, ist praktisch völlig fremd.«

»Ach! Das hat sie aber nicht davon abgehalten, sich den erstbesten Typen zu schnappen und mit ihm …«

»Hey!« Mit nur einem Blick bringe ich ihn zum Schweigen. Er hat recht. Ich weiß es ja. Dennoch …

»Erspar mir bitte die Details, ja?« Ich widerstehe nur mit Mühe dem Impuls, mir die Ohren zuzuhalten. »Oder weißt du nach all der Zeit immer noch nicht, wie mein krankes Hirn funktioniert? Du sagst: ›Strapse tragendes Schwein heizt mit Motorrad über Hochspannungsleitung–, und ich sehe ein Strapse tragendes Schwein mit dem Motorrad über ‘ne scheiß Hochspannungsleitung brettern. Verstehst du? Ich sehe alles, was du mir erzählst, bildlich vor mir. Es ist wie ein Fluch! Also, bitte: Erspar. Mir. Die. Details!«

Rob lässt die Luft, die er für weitere Ausführungen schon tief aus seinen Lungen geschöpft und in seine Wangen gepumpt hatte, wieder geräuschvoll entweichen.

Es passt ihm ganz und gar nicht, dass er nicht weiter auf seine Entdeckung eingehen soll, in der meine Freundin Jeannine und ihr muskelbepackter Fitnesstrainer die unrühmlichen Hauptrollen spielen. Aber Rob ist nicht nur mein Partner in der Kanzlei, sondern auch ein guter Freund.

Und so wirft er resignierend die Hände in die Luft und lehnt sich so weit auf seiner Sitzbank zurück, dass sich sein rundlicher Bauch deutlich unter dem grauen Sweatshirt abzeichnet. Ein Shirt, das seinem Namen heute alle Ehre gemacht hat. Denn auf Robs breiter Stirn stehen Hunderte kleine Schweißperlen, die in mir die Frage aufkommen lassen, welcher Teil des Nachmittags wohl stärker zu seinem Zustand beigetragen hat. Die Aufregung über seine Entdeckung oder die körperliche Anstrengung?

Rob ist zehn Jahre älter als ich, steuert mit Riesenschritten auf seinen vierzigsten Geburtstag zu und versucht seit geraumer Zeit vergeblich, sein überflüssiges Bauchfett zu verbrennen. Irgendwie.

Mit diesem Ziel besuchte er heute zum ersten Mal seinen neuen Aerobic-Kurs. Eindeutig hormongesteuert und angetrieben von der verzweifelten Hoffnung, auf diesem Wege endlich die Frau fürs Leben – oder zumindest für eine lang schon überfällige heiße Nacht – zu finden, hatte er den Kurs gebucht.

Was er jedoch anstelle seiner Traumfrau entdecken musste, schockiert ihn bis jetzt immer noch sichtlich.

Meine vermeintliche Traumfrau nämlich, die unter der Aufsicht des besagten Muskelprotzes mit einem Paar Hanteln trainierte. Der Personal Trainer meiner Freundin war dabei so aufmerksam gewesen, Jeannine ein wenig unter die Arme zu greifen. Sprichwörtlich. Von hinten.

Seine Hände hatte er an Stellen ihres Oberkörpers platziert, die ich bislang naiverweise für privat erachtet hatte. Privat für mich!

All das und noch viel mehr hatte Rob unbemerkt beobachtet, als er Jeannine nach seinem Kurs in einer entlegenen Ecke des Fitnessraums entdeckte und sie gerade freudig begrüßen wollte.

An diesem Punkt seiner Schilderung habe ich ihn allerdings unterbrochen. Mehr wollte und brauchte ich nicht zu hören. Strapse tragendes Schwein und so. Nein, danke!

Plötzlich schaut Rob von seiner Bierflasche zu mir auf. Seine Augen weiten sich, und für einen winzigen Moment blitzt die verrückte Idee in mir auf, er könne eine allesrettende Erleuchtung haben.

»Scheiße, das ist tatsächlich das erste Mal, dass dir ein Mädchen fremdgeht, richtig? Ich meine, sie dir und nicht umgekehrt.«

»Rob?«

»Hm?«

»Halt die Klappe!«

Doch leider liegt er auch mit dieser vollkommen überflüssigen Bemerkung richtig. Nicht, dass ich wirklich jeder Frau vor Jeannine fremdgegangen wäre, aber … nun ja, so ganz kann ich mich nicht von seiner Anklage freisprechen.

Während der letzten Jahre meiner Senior-High-Zeit und über die Etappe meines anschließenden Studiums hinweg, hangelte ich mich quasi von einer Party zur nächsten, sammelte so viele One-Night-Stands wie nur möglich und prahlte nach jeder erfolgreichen Nacht mit meinen Eroberungen. Nur selten – und wenn, dann immer nur für kurze Zeit – startete ich in diesen Jahren vage Beziehungsversuche. Schlechtes Gewissen? Ehrlich gesagt, nicht! Dafür fühlte es sich einfach zu gut an.

Gestärkt durch meine Studienfreunde, die größtenteils ähnlich tickten wie ich, redete ich mir damals ein, diese unbeschwerte Zeit in vollen Zügen genießen zu müssen. Und das war leicht, denn keines der Mädchen hatte mir wirklich etwas bedeutet.

Bis auf Jeannine.

Ich lernte sie auf einer beruflichen Reise in Frankreich kennen, wo sie gerade für ein paar Wochen ihre Tante besuchte und in deren kleinem Bistro im Herzen von Paris jobbte. Es war Liebe auf den ersten Blick, im wahrsten Sinne des Wortes.

Groß, schlank und mit den perfekten Rundungen an den richtigen Stellen, bediente sie mich an einem heißen Maitag. Sie trug ein kurzes Kleid, strich sich immer wieder eine hellbraune Haarsträhne, die sich aus dem lockeren Zopf in ihrem Nacken gelöst hatte, hinter ihr Ohr zurück und nahm meine Bestellung mit einem kessen Lächeln entgegen. Es traf mich wie ein Blitz. Und da Jeannine aus einem Vorort von Ontario in Kanada stammt und bis zu dieser Zeit in ihrem Leben überwiegend Französisch gesprochen hatte, beantwortete sie meine neugierigen Fragen tatsächlich mit diesem süßen Akzent. Jeder zweite ihrer Sätze fing mit einem »Oh, oui Monsieur!« an. Ich meine, welcher Mann wird dabei nicht schwach?

Damals ahnte ich noch nicht, dass sie mich so in die Irre führen würde.

Was, um alles in der Welt, soll ich denn jetzt machen?

Seitdem Jeannine zurück nach Ontario flog und unmittelbar danach meiner Aufforderung folgte, mich in Seattle zu besuchen, fühle ich mich für sie verantwortlich. Denn schließlich war ich derjenige, der sie schon nach zwei Wochen, unmittelbar vor ihrer Rückkehr nach Kanada, überredete, doch noch länger bei mir zu bleiben. Als sie einwilligte, erledigte ich sämtliche Behördengänge mit ihr und besorgte ihr sogar einen Job in unserer Kanzlei. Nichts Großes. Kaffee kochen, die Post öffnen, Telefonate annehmen, sollte unsere Sekretärin gerade anderweitig beschäftigt sein. Aber so hatte Jeannine eine Arbeitserlaubnis, einen Job und die Formalitäten waren erfüllt.

Also machten wir unsere Beziehung bereits nach den ersten paar Wochen offiziell, und sie zog dauerhaft bei mir ein, obwohl ihre Eltern alles andere als begeistert davon waren.

Da kann ich sie doch jetzt nicht einfach auf die Straße setzen, oder?

»Darf ich euch noch was zu trinken bringen?«, fragt die leicht gestresst wirkende junge Kellnerin, als sie im Vorbeigehen unsere leeren Bierflaschen bemerkt. Rob und ich einigen uns stumm, verneinen dankend und verlangen stattdessen die Rechnung.

Die hübsche Blondine nickt, stellt unsere Flaschen auf ihr Tablett und wendet sich schwungvoll ab. Rob fällt es sichtlich schwer, seine Augen von ihr zu nehmen. Beinahe sehnsüchtig löst er seinen Blick von ihr und seufzt theatralisch. Wie der Hauptdarsteller einer alten Schwarz-Weiß-Schnulze.

Oh Mann, der Kerl ist so was von überfällig!

»Himmel, Rob, reiß dich mal zusammen!«, raune ich ihm zu. Mit attraktiven Kellnerinnen flirten, tss! Er sollte es verdammt noch mal besser wissen.

»Pass auf, dass dir der Sabber nicht aus den Mundwinkeln trieft. Und jetzt komm, ich habe heute Abend noch was zu tun. Zum Beispiel meine treulose Freundin zur Rede stellen und so. Du weißt schon.«

Keine halbe Stunde später ist es so weit. Mit rasendem Herzen und einem unwohlen Grummeln im Bauch verlasse ich den Fahrstuhl und durchquere den schmalen Korridor, die Tür zu meiner Wohnung fest im Blick. Das metallene Geräusch des sich im Schloss drehenden Schlüssels klingt übermäßig laut in meinen Ohren. Meine Sinne befinden sich in Habachtmodus, ich agiere angespannt und alarmiert.

Jeannine hingegen sitzt seelenruhig und offenbar vollkommen relaxt auf meiner Couch und lacht über die abgedroschenen Sprüche irgendeiner Nachmittags-Sitcom. Mich begrüßt sie lediglich mit einem kurzen »Ey Jerry!«.

Oh Mann, ich liebe es, wie sie spricht!

Aus ihrem Mund klingt mein lahmer Spitzname beinahe wie das französische ›Chéri‹.

Fokus, Jeremy! Lass dich nicht einlullen!

Ich verharre noch einen Moment stumm auf der Schwelle zu meiner Wohnung, bevor ich tief durchatme, den Knauf in meinem Rücken packe und die Tür entschlossen zudrücke. »Schalt das bitte ab, Jeannine! Wir müssen reden.«

Und das tun wir. Gut, eigentlich rede vorerst nur ich. Berichte ihr gestenreich, in einem leidenschaftlichen Monolog, dass Rob sie und Mr. Sixpack unbemerkt beobachtet hat. Mache ihr unzählige Vorwürfe, zähle all die Dinge auf, die ich in den vergangenen Monaten, seit unserem Kennenlernen, für sie getan habe. Beobachte den sekundenlangen Schock in ihren Augen, der den letzten Hoffnungsschimmer auf einen Irrtum unwiderruflich auslöscht. Ärgere mich, dass ich von Satz zu Satz lauter werde – hatte ich mir auf der Heimfahrt doch noch felsenfest vorgenommen, nur ja die Ruhe zu bewahren und sachlich zu bleiben. Und plötzlich, ganz unverhofft, spüre ich einen starken, bislang unbekannten Schmerz, ausgelöst durch eine Erkenntnis, die zwar erst spät einsetzt, mich aber dennoch wie ein Schlag trifft.

Sie hat mich tatsächlich hintergangen. Vermutlich hat sie mich nicht einmal geliebt. Das erste Mal in meinem Leben fühle ich mich wirklich bereit, eine feste Beziehung einzugehen … und dann das!

Während mein Mund mitten im Satz offen stehen bleibt und ich wie ein Hornochse ins Leere gaffe, fängt sich Jeannine ausreichend, um ihren Schock unter Zorn zu begraben.

»Das ist doch alles deine Schüld, Jerry!«, schimpft sie. »In den letzten Wochen gab es immer nur Arbeit, Arbeit, Arbeit. Du ‘ast misch gar nischt mehr beachtet. Warüm bist du nischt einfach mitgekommen in die Fitnessstüdeo?«

Ihre Worte dringen seltsam gedämpft zu mir hindurch. Ich versuche, meine Fassung zurückzuerlangen und blinzle so oft, bis ich wieder klar sehe. Mit in die Hüften gestemmten Händen steht mir Jeannine gegenüber – bildschön, wie immer – und schaut mich wütend an. Sie mich. Wütend.

Warum nur klingen ihre Vorhaltungen so, als wären wir schon seit Jahrzehnten miteinander verheiratet? Wir kennen uns nicht einmal sechs Monate! Und ich habe sie nicht beachtet? Das ist absolut lächerlich.

»Du hast doch gesagt, du möchtest etwas allein machen. Etwas nur für dich, um eigene Bekanntschaften zu knüpfen«, halte ich dagegen und fühle mich plötzlich sehr erschöpft, als mir bewusst wird, auf welche Weise sie ihren Wunsch umgesetzt hat. Resigniert werfe ich die Hände in die Luft. »Weißt du was, Jeannine? Ich möchte, dass du ausziehst. Und zwar so schnell wie möglich.«

»Fein!« Wutentbrannt greift sie den überfüllten Aschenbecher, den ich überhaupt erst für sie in meine bis dahin strenge Nichtraucherwohnung geholt habe, kippt die Asche und Überreste ihrer Glimmstängel quer über meine helle Couch und pfeffert ihn dann mit voller Wucht gegen die Wand über meiner Schallplattensammlung. Dort prallt er ab, knallt zu Boden, schlägt eine Delle ins Parkett und zerschellt dabei lautstark.

»Chuck hat sowieso gesagt, dass ich jederzeit bei ihm in die Fitnessstüdeo arbeiten kann!«, kreischt sie.

»Womit auch die Jobfrage geklärt wäre, ist ja wunderbar!«, brülle ich zurück und beschließe im selben Moment, dass ich hier nicht länger bleiben kann. Nicht an diesem Abend. Das würde meinem armen Appartement überhaupt nicht gut bekommen.

»Ich gebe dir eine Woche, dann bist du draußen, kapiert?«

Jeannine greift nach der Vase auf meiner Anrichte, die ich ihr erst vor wenigen Tagen in einem Designershop gekauft habe. Gerade noch rechtzeitig gelingt mir die rettende Verrenkung, bevor das edle Porzellan unmittelbar hinter mir, an der Innenseite meiner Wohnungstür, zerschellt. 279 Dollar. Vermutlich ebenso viele Scherben.

Während mich meine vom Adrenalinkick noch zittrigen Beine zurück ins Parkhaus zu meinem Wagen tragen, zücke ich mein Smartphone und tippe eine schnelle SMS ein:

Hey Rob,

müsste doch auf dein Angebot zurückkommen. Klapp schon mal dein Gästebett auf, ich bin in zehn Minuten bei dir.

– J –

IMMER WENN ES STERNE REGNET

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