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Komm, begleite mich ein Stück … 


Wie eine Feder, getragen vom sanften Wind, gleite ich hoch über den Köpfen der Menschen dahin. Unsichtbar, unbemerkt, schwerelos.
Es stimmt tatsächlich, sie sehen aus wie Ameisen. Ebenso winzig, nur wesentlich unkoordinierter. Geschäftig rennen sie in alle Himmelsrichtungen. Die typischen Taxis und Busse kriechen zwischen anderen Fahrzeugen in langen Kolonnen dahin, dicht an dicht gedrängt, hupend. Sie verleihen den Adern dieser Stadt ihren eigenen metallenen Glanz. Der Berufsverkehr in London schimmert schwarz-rot.

Von oben betrachtet ist die Welt am schönsten.   
Ich beobachte das hektische Treiben auf den Straßen, doch ich bin so weit davon entfernt, dass es mich nicht berührt, geschweige denn stresst.
Nein, ich lächele nur amüsiert angesichts dieses Bildes. Es sieht wirklich so aus, als habe man eine Schaufel voll Menschen wahllos irgendwo abgeladen und diese Menge, ein jeder für sich, versuche jetzt kopflos, wieder in eine Struktur zurückzufinden.

Einige Kinder, ein dunkelblond gelocktes Mädchen und drei rothaarige Jungs, stehen auf einem großen Platz tief unter mir, lassen Luftballons aufsteigen und winken ihnen nach. Während sich die Jungs bald schon wieder abwenden und lautstark nach einem weiteren Eis vom nahegelegenen Stand verlangen, schaut das Mädchen mit dem wirren Lockenkopf noch lange hinter ihrem Ballon her. Als ahne die Kleine, dass seine Reise bedeutungsvoll sein wird, starrt sie ihm aus weit aufgerissenen hellgrünen Augen nach. Hoffnungsvoll.
Es ist ein süßer Anblick, der mich für einige Zeit fesselt.
Nun, ihren roten Ballon, der sich zwischen all den anderen in die Lüfte emporhebt, und besonders seine wertvolle Fracht – die Postkarte, die an der langen Schnur unter ihm im Wind trudelt – habe ich tatsächlich bereits erwartet. Sie sind Teil meines Plans.

Mein Plan, richtig!

Also nehme ich meinen Weg wieder auf, rufe dem kleinen Mädchen unter mir ein lautloses „Bis bald!“ zu und werde sanft weitergetragen. Über altehrwürdige Bauten hinweg, den breiten Fluss, der immer leicht trüb aussieht, die großen Parkanlagen und sich enger und enger verzweigende Straßen, bis zum Rande der Stadt. Dorthin, wo die Häuser flacher und die Dächer steiler werden; schließlich kann man sogar einige Vorgärten erkennen. Auf einem Sportplatz spielen Halbwüchsige Fußball. Sie schreien und rufen, und ihre Energie und Unbekümmertheit tut so gut, dass ich für einen Moment verweile.

Aber bald geht meine Reise weiter. Immer dem roten, mit Heliumgas gefüllten Luftballon nach, so könnte man meinen. Was natürlich ein Trugschluss wäre, denn ich folge ihm nicht. Ich leite ihn.
Mein Weg führt mich entlang einer breiten Allee bis zu einer gelben Vorstadt-Villa im viktorianischen Stil, über deren Dach mich mein Freund, der Wind, mühelos hinweghebt. Auf mein Kommando hin teilt er sich und lässt einen seiner unzähligen Arme geschickt kreiseln. Der Ballon – und mit ihm auch die Karte – wird in den Luftstrudel gesogen und sinkt trudelnd herab. Die lange Schnur verheddert sich in einem Buchsbaum unmittelbar vor der Villa.
Punktlandung!

Von hier oben kann ich ihn nicht sehen, aber ich weiß, wie traurig der kleine Junge ist, der im Obergeschoss dieses großen gelben Hauses auf seinem Bett liegt und aus tränengefluteten Augen die hohe Zimmerdecke anstarrt. Der Blick des Mädchens ging in den offenen Himmel – grenzenlos – seiner hingegen scheint gefangen zu sein. Ich kenne die Verzweiflung und Ängste dieses Jungen nur allzu gut. Und ich habe durchaus vor, ihm zu zeigen, dass er nie so einsam war, wie er sich auch in diesem Moment wieder fühlt. Doch noch ist die Zeit nicht reif dazu.
Also lobe ich den Wind für seine Präzision und lasse den im Buchsbaum verfangenen Ballon zufrieden zurück, ohne mich ein weiteres Mal nach ihm umzudrehen. Nein, die Weichen sind gestellt.  

Schnell verlasse ich Raum und Zeit. Im Handumdrehen befinde ich mich in einem neuen Jahrzehnt, in einer viel jüngeren Stadt, auf der anderen Seite der Welt.
Hier liegt die vorläufige Bestimmung meiner Reise, hier lasse ich mich nieder. Lautlos schwebe ich über die breite Terrasse und durch den Spalt des angelehnten Fensters eines taubenblauen Hauses. Das Schlafzimmer bietet mir einen gewohnten Anblick: Der dunkle Parkettboden ist mit diversen Kleidungsstücken bedeckt, auf dem Nachttisch stapeln sich Bücher und am Fußende des Doppelbettes lehnt eine alte Gitarre. Daneben, auf einer durchgewetzten Decke, liegt ein Hund und schnarcht leise vor sich hin.
Sicher und völlig unbemerkt gelange ich zu meinem Bestimmungsort und geselle mich zu dem schlafenden Mann, der mich vor langer Zeit schon lautlos rief.
Ich kenne ihn bereits sein Leben lang, er jedoch kennt mich noch nicht und wird es auch nicht. Nur eine Ahnung wird meine Anwesenheit hinterlassen. Doch auch bis dahin ist es noch ein weiter Weg.
Lediglich ein sanfter, kaum wahrnehmbarer Windhauch verkündet dem Unwissenden mein Erscheinen und lässt ihn in genau diesem Moment einmal tief durchatmen. 

Wer ich bin? Nun, das ist momentan noch nicht wichtig. Es geht um ihn. Um meinen Schützling, meinen Menschen. Ob ich ein Engel bin? Eine nette Vorstellung, aber … nein!
Ich sage dir was: Begleite ihn gemeinsam mit mir, dann wirst du auch mich kennen lernen.
Einverstanden? Na, dann los!  
 
ER und das, was du von ihm wissen solltest: Er ist ziemlich groß und recht athletisch gebaut, fällt mit seinem wirren dunkelblondem Haar und den tiefblauen Augen definitiv in die Sparte „attraktiv“.
Er ist neunundzwanzig Jahre und zwei Monate alt, im Sternzeichen der Fische geboren und damit ziemlich schüchtern und nicht unbedingt der Entschlossenste.
Er ist der Sohn eines amerikanischen Diplomaten und einer deutschen Konzertpianistin. Seine ältere Schwester hätte er in frühen Kindheitstagen ohne zu blinzeln gegen einen eigenen Hund eingetauscht. Heute ist er froh, es nicht getan zu haben.
Er liebt indisches Essen, den lauen Abendwind im Sommer, gute Bücher, die frische Luft am Morgen, den Klang seiner alten Gitarre, das knarrende Geräusch von Schnee unter seinen Sohlen und seinen Hund Jack. Und – was er jedoch nur selten erzählt, weil er denkt es ließe ihn spießig wirken – er wandert gerne in den Bergen und bleibt dann für Stunden auf dem Gipfel, bis die Sonne untergeht.
Klamotten sind ihm völlig Schnuppe; etwas für oben, etwas für unten, Socken, Schuhe, fertig. Nur bequem muss es sein.
Und, was wohl am wichtigsten ist: Er hat ein gutes Herz ... mit einem tiefen Riss. 

Ich gebe das Wort an Schützling Nr. 583.745.233 
alias Ben Anthony Todd 
 

 
 
Ben erzählt:

Der leise, unverwechselbare Klang meiner Gitarre hallt durch den Raum. Behutsam zupft sie die Saiten.
Es dauert eine Weile, bis ich mich an die stechende Helligkeit gewöhnt habe, doch ich begnüge mich mit einem Blinzeln und balle meine Hände zu Fäusten, um mir nicht versehentlich über die Augen zu reiben.
Nicht bewegen!, befehle ich mir und lasse mich reglos von der tiefstehenden Novembersonne blenden.
Nein, die dünnen Vorhänge bieten ihrem Licht keine ernstzunehmende Barriere. Beinahe ungebrochen flutet es meinen Schlafraum und lässt die in der Luft tanzenden Staubpartikel schimmern. Ein netter Nebeneffekt meiner grenzenlosen Schlampigkeit.
Als sich in dem funkelnden Weiß endlich Konturen abzeichnen und zunehmend an Schärfe gewinnen, eröffnet sich mir das schönste Bild von allen: Sie sitzt auf der äußersten Kante meines Bettes, zu meinen Füßen. Die langen Haare gedreht und über ihre Schulter nach vorn gelegt, das Laken locker um die Taille geschlagen, konzentriert. So sitzt sie da.
Nackt – und wunderschön.
Mit den Fingern ihrer linken Hand umfasst sie den Hals des Instruments; zwischen ihren Augen bildet sich eine kleine, steile Falte, wann immer sie die Positionen ihrer Griffe überprüft und korrigiert. Sie beißt auf ihrer Unterlippe herum, während sie die Akkorde anschlägt. Wieder und wieder, bis sich die Haltung ihrer Finger entspannt und fließende, harmonische Töne den Raum erfüllen.
Ein Lächeln bildet sich auf meinem Gesicht. 
Das ist eine der Eigenschaften, die ich so sehr an ihr liebe – ihren Unwillen, auf halber Strecke aufzugeben. Irgendetwas aufzugeben, bis es nicht absolut richtig und gut ist.
Ewig könnte ich so daliegen, gebannt von ihrem Anblick und zu ängstlich, mich zu strecken oder auch nur zu gähnen – will ich sie doch auf keinen Fall darauf aufmerksam machen, dass ich bereits wach bin.
Nein, sie soll in ihrer Versunkenheit bleiben, solange ich ihr nur zusehen darf.
Mein Blick fällt von ihrem Profil auf die hässliche, alte Gitarre. Dieses glückliche Stück Holz, gegen dessen Rückseite sich ihre Brüste drücken.
Diese verdammte Gitarre! 
Könnte sie sprechen, Gott weiß, sie wüsste mehr über mich zu berichten, als sonst jemand auf dieser Welt. Seit meiner Teenagerzeit hat sie mich durch alle Höhen und Tiefen begleitet. Und verdammt, sind einige dieser Tiefen tief gewesen.
Wie oft hatte ich das verblichene Instrument, an dessen Oberfläche sogar schon die Lackschicht absplittert, in meinen Händen gehalten? So, wie es jetzt in ihren liegt.
Doch meine Finger waren schwerer gewesen als ihre, so viel schwerer. Und ungeschickter, trotz der jahrelangen Übung, trotz der Routine, die ich hätte haben müssen.
Gemeinsam hatten wir auf der Veranda vor dem Haus meiner Schwester gesessen, während ich mit steifen Fingern versucht hatte, bedeutungsvolle kleine Botschaften – in zittrigen Tönen verpackt – von meinem in ihr Herz zu schleusen. Vergeblich. Immer wieder vergeblich, wie es schien. Sie lauschte, lächelte wissend, stand auf ... und ging.
Weg von mir. Zurück zu ihm.
Als sich mein Aufenthalt dem Ende neigte und der Abschied nahte, redete ich mir ein, es würde nicht halb so schlimm um mich stehen, wie ich es damals – zu Recht – annahm.
Ich hoffte, mich zu irren und sagte mir immer wieder, es würde ein Leichtes werden, mich emotional und gedanklich von dieser jungen Frau zu lösen, wenn ich sie nur nicht mehr jeden Tag sehen müsste.
Aus den Augen, aus dem Sinn, so hieß es doch ... 
Es dauerte nicht lange, da fand ich mich in der Wohnung meines besten Freundes wieder, klimperte traurige Akkorde auf meiner geduldigen Gitarre und trank ein Bier nach dem anderen, in der Hoffnung, die Lösung meiner Probleme in dem Verlust meiner Selbstkontrolle zu finden.
Ich stürzte mich beinahe wahllos in Rollen, die ich unter anderen Umständen nie angenommen hätte, nur um nicht ich selbst sein zu müssen. Der Idiot, der sich – wider besseres Wissen – in ein bereits vergebenes Mädchen verliebt hatte.
Entgegen meiner Erwartungen hatte Randy mich nicht verspottet. Nicht ein einziges Mal. Ich frage mich bis heute, ob es wirklich möglich ist, dass ein Mensch einen anderen so gut kennt.
Was für ein Vollidiot du doch warst, Ben!, raune ich meinem vergangenen, wehmütigen Ich nun in Gedanken zu. Dich stumm und reglos nach ihr zu sehnen, während sie zwei Tagesreisen entfernt mit jemand anderem zusammen war. 
Und dann wieder … gab es die Höhen: Allen voran der Moment, als ich die Tür öffnete – mein Textbuch in der Hand, bereit für die Probe – und sie plötzlich vor mir stand. Wie aus dem Nichts, ohne jede Ankündigung. Die vom Aprilwind zerzausten Haare, der seltsam unsichere Blick – jedes Detail ihres Anblicks ist bis heute abgespeichert und jederzeit abrufbar. 
Die Magie einer Erinnerung.
Sie begleitete mich ins Theater, zu meiner Probe. Ständig vergaß ich den Text. Zu aufgeregt um Konzentration auch nur heucheln zu können, bot ich ihr die miserabelste Darstellung aller Zeiten. Erst als das Saallicht anging und sie tatsächlich noch immer auf ihrem Platz in der fünften Reihe saß – ein nachsichtiges Lächeln im Gesicht – beruhigte sich mein rasender Puls wieder. 
An diesem Abend spielte ich ihr zum ersten Mal ihr Lied vor.
Meine Finger zitterten so heftig, dass lediglich die Hälfte der Noten richtig klang, während meine Stimme immer wieder wegbrach, als gehöre sie nicht mir selbst, sondern zu einem pubertierenden Jungen in seinen schlimmsten Stimmbruch-Zeiten.
Als der letzte Akkord verhallte und ich die Gitarre zur Seite stellte, konnte ich nur auf meine Hände herabstarren.
Aber sie glitt auf meinen Schoß, platzierte meine Fingerspitzen auf ihren Hüften und umschloss mein Gesicht mit ihren Händen.
„Ich liebe dich, Ben!“, sagte sie. Schlicht und einfach. 
Die Erinnerung bringt mein Herz erneut zum Rasen und holt mich endlich zurück.
Zögerlich strecke ich meine Hand aus. Sie bemerkt meine Bewegung nicht einmal. Ihre leicht geschürzten Lippen bewegen sich lautlos; sie singt. Gewisperte Songtexte – viel zu leise, als dass ich sie hören kann.
„Lauter, bitte“, murmele ich und lasse meine Fingerspitzen dabei über ihren Arm gleiten.
Sie zuckt leicht zusammen, erschreckt durch die Berührung oder vielleicht auch über meine vom Schlaf getränkte Stimme, die sogar in meinen eigenen Ohren rau und viel zu tief klingt.
Dennoch verstreicht nur ein Herzschlag, bis ihre Mundwinkel zucken und ein süßes kleines Lächeln formen. „Keine Chance!“
Mit gerunzelter Stirn stütze ich mich auf die Ellbogen hoch. „Warum nicht?“
Sie bewegt sich langsam und gewohnt bedacht. Mit beinahe ehrfürchtiger Vorsicht lehnt sie die Gitarre gegen die Bettkante, wobei das Laken um ihre Hüften noch tiefer rutscht und meinen Blick mit sich nimmt.
„Weil ich jetzt, wo du endlich wach bist, viel lieber das hier tun möchte …“, sagt sie, als sie über mich gleitet und meinen Körper mit ihrem bedeckt. Und dann sind ihre Lippen auf meinen, warm und weich. Wie immer, wenn wir uns so berühren, durchzuckt mich ein wohliger Stromschlag.
Es wird – das weiß ich so sicher, wie nur irgendetwas sicher sein kann – niemals selbstverständlich werden, sie so zu spüren. Es wird immer etwas Wundervolles bleiben. Mein persönliches Wunder.
Ihre Lippen lösen sich zögerlich von meinen. Ehe ich protestieren kann, spüre ich sie dicht an meinem Ohr.
„Ich bin schwanger, Ben“, flüstert sie und weicht dann ein wenig zurück. Da ist er wieder, dieser unsichere Blick von damals.
Die Worte sind durch, die Erkenntnis bleibt aus. Sekundenlang starre ich sie an. „Du ...  wie ... seit wann? ... Bist du sicher?“
Sie bemerkt meine Freude wohl vor mir, denn sie kichert erleichtert und schmiegt sich zurück an meine Brust. „Absolut, ja! Du wirst ein Daddy, Ben!“       
                                                                                              
Schrille Musik lässt mich aufschrecken, gefolgt von einem einzelnen Bellen. Mit weit aufgerissenen Augen starre ich in tiefes Schwarz; dann erst schließt mein Bewusstsein zu mir auf. Gedankenfetzen durchzucken mich, fügen sich zusammen und entfesseln die Panik in dem Bruchteil einer Sekunde:
Die Musik? ... Handy!
Dunkelheit? ... Nacht!
Der Hund? ... Jack!
Nur ein Traum? ... Nein!!! 
Ich greife neben mich und kralle meine Finger tief in das weiche Kopfkissen. Ein Kissen, auf dem schon lange niemand mehr lag.
Im selben Moment wird mir bewusst, es schon wieder getan zu haben. Vier gottverdammte Jahre ohne sie, und ich suche noch immer nach ihr. Die schrille Elektromusik wird lauter. Ich schüttele den Kopf und knipse mein Nachtlicht an. Reibe meine Augen, taste nach meinem Handy. Spare mir den Blick auf das Display, denn es gibt nur einen, der mich ohne Hemmungen zu jeder Tages- und Nachtzeit anruft.
„Randy!“, begrüße ich meinen besten Freund in mürrischem Ton.
„Wo bist du?“, brüllt er. So laut, dass ich reflexartig den Kopf abwende und den Apparat weit weghalte. Der Lärm des Straßenverkehrs ist trotzdem nicht zu überhören. „Sag mir nicht, dass du schon schläfst!“, ruft Randy.
Mein Blick fällt auf die Anzeige meines Weckers. „Es ist halb zwei!“
„Nein!“, protestiert er lautstark. „Es ist Samstag Nacht halb zwei!“
„Und?“, frage ich genervt und bringe das kleine Gerät nur zögerlich wieder in die Nähe meines Ohrs.
„Was und? Wo bist du, Ben? Die Stadt lebt. Du kannst sie atmen hören, in Nächten wie diesen. Vor jedem halbwegs angesagten Club lungern die Paparazzi und warten auf den Shot ihres Lebens. Nur dich werden sie nie vor die Linse bekommen, wenn du weiterhin deine warme Milch trinkst und dann wie ein Schuljunge ins Bett gehst.“
„Steigert das nicht meinen Marktwert?“, halte ich dagegen und lasse mich zurückfallen. Als ob mich mein Berühmtheitsgrad je interessiert hätte. Entschuldigend kraule ich Jacks Fell, der mich von der Seite meines Bettes aus anstarrt, als wolle er fragen ob ich noch alle Tassen im Schrank habe ihn mitten in der Nacht aus dem Tiefschlaf zu reißen. Randys Lachen erzeugt ein lautes Rauschen in der Leitung.
„Deinen Marktwert? Ich wusste nicht einmal, dass du so etwas besitzt.“
„Ernsthaft, Randy, ist das der Grund deines Anrufs? Mir ohne jede Veranlassung auf die Nüsse zu gehen? Einfach so? Oder hast du etwas gegen Schlaf im Allgemeinen?“
„Nein, nicht generell! Aber du schuldest mir noch eine Antwort.“
Ich muss kurz nachdenken, doch dann fällt mir das neue Skript, das Randy mir gestern in die Hand gedrückt hatte, wieder ein. Er wollte meine Meinung hören. „Oh Mann, ich habe es noch gar nicht gelesen, sorry!“
„Hm“, brummt er nur, doch ich spüre seine Enttäuschung.
„Ich lese es direkt morgen früh, versprochen. Wir können ja gemeinsam zu Mittag essen, dann sage ich dir was ich davon halte, in Ordnung?“
„Okay“, willigt er ein. „Nur soviel, wenn du das liest, wird es dir anfangs so vorkommen, als wäre es eine weitere Serie über Gefahr und Tod. Das stimmt aber nicht. Stell es dir wie ein Märchen für Erwachsene vor. Wir werden die Stimmung der Aufnahmen mit Licht-Spielereien und übersteuerten Farben immer fröhlich halten. Viele Weitwinkel-Aufnahmen, alles breiter und offener als in der Realität. Es gibt sogar einen Erzähler, mit einer richtig sarkastischen Art. Und mit jeder weiteren Folge, mit jedem Bruchstück, das wir hinzufügen und ergänzen, werden wir eine Show erschaffen, die zeigt, wie wunderschön das Leben sein kann, wenn man sich nur darauf einlässt. Nichts Trübes. Wir zeigen die Welt, wie sie sein sollte. `Das Leben in meinem Sinn´, so wird die Serie heißen.“
Ungeachtet der Tatsache, dass wir telefonieren, nicke ich – wie immer, wenn Randy in einen Redeschwall verfällt und mich seine Euphorie packt. Niemand kann sich so ansteckend für etwas begeistern wie er.
„Also, dann morgen um eins?“, fragt er.
„Jepp!“ Die Wahl des Restaurants ist bereits getroffen. Es kann nur eines geben! Wir sind seit Ewigkeiten eingefleischte Stammkunden des `Biaggio´ und werden es vermutlich bis an unser Lebensende bleiben. Marios genialer Pizza sei Dank! Außerdem hat das winzige Restaurant rund um die Uhr geöffnet, was Randys Spontaneität und Nachtaktivität schon das eine oder andere Mal zugute gekommen ist.
„Na dann, träum süß weiter, Dornröschen“, flötet Randy.
„Penner!“, gebe ich zurück. Ein kurzes Lachen, dann hat er das Gespräch beendet. 
Ich lege das Handy aus der Hand, knipse das Licht aus und drehe mich auf die Seite. Versuche, mich zu entspannen und scheitere erbärmlich dabei. Vielleicht liegt es an dem Traum, aus dem Randy mich mit seinem Anruf gerissen hat: Sobald ich meine Augen schließe, sehe ich ihr Gesicht vor mir. Shirley ...

An Schlaf ist so schnell nicht mehr zu denken, das wird mir bald schon bewusst. Wenn die Erinnerungen an sie so glasklar sind wie in dieser Nacht, dann höre ich tausend Geräusche – so still die Realität auch sein mag. Ich versuche vergeblich, mich auf Jacks regelmäßige Atmung zu konzentrieren. Der Glückliche wird schon bald wieder im Land der Träume ankommen. Mir hingegen bleibt dieser Zutritt verwehrt, denn die Geräusche in meinem Kopf sind zu laut, als dass ich zur Ruhe finden könnte. Die Reihenfolge dieser Geräusche ist festgelegt, ebenso wie die damit einhergehenden Bilder. Erinnerungen, die mir auch dieses Mal wieder die Luft zum Atmen rauben werden und denen ich mich dennoch nicht entziehen kann.
Schon wird Shirleys Lachen, ausgelassen und glücklich, durch ihr erstes leises Weinen überschattet. Es folgt der Streit, unsere sich überschlagenden Stimmen, das Quietschen der Bremsen, das schreckliche Scheppern und ein Schrei, den ich damals viel zu spät als meinen eigenen erkannte ...
Ja, es ist immer wieder dieselbe Abfolge. Ohne Chance, sich dem schrecklichen Ende zu entziehen.
Noch schlimmer jedoch sind die fehlenden Töne. Laute, die ich erwartete – ja, herbeisehnte – die jedoch nie kamen: Das tiefe Durchatmen nach dem schrecklich dumpfen Aufprall, ein erleichtertes Seufzen, ein weiteres „Ich liebe dich“ aus ihrem Mund ... und, vielleicht vor allem anderen, der erste Schrei des Babys. UnseresBabys. 
Jack, der meine Unruhe wohl bemerkt, springt auf das Bett, rollt sich an meiner Seite zusammen und legt seinen Kopf auf meinem Bauch. „Ja, du hast Recht, Junge“, murmele ich, atme tief durch, reibe mir den letzten Rest Verschlafenheit aus den Augenwinkeln und knipse das Licht wieder an. Ergreife das Skript auf meinem Nachttisch und setze mich auf.
`Das Leben in meinem Sinn´ steht auf dem Cover.
Verdammter Randy, durchzuckt es mich. Mal sehen, was er nun schon wieder ausgebrütet hat.
Und so beginne ich, mitten in einer lauen Aprilnacht, im Skript der ersten Folge einer neuen Serie zu lesen, die – laut meinem besten Freund – die Geschichte des Fernsehens revolutionieren wird.
Nein, er ist nicht überheblich. Randy ist schlichtweg größenwahnsinnig. Und ich kenne niemanden, der damit so gut fährt wie er.
Sicher, an seinen Ideen spalten sich die Meinungen der Kritiker. Seine Werke sind immer anders und einen Ticken schräger als alle anderen. Viele lieben seinen Stil, manche hassen ihn. Er polarisiert – und findet das klasse. 
„Lieber ein paar Tausend Mal in die Kacke greifen und dann einmal Gold darin finden, als sein Leben lang nur immer und immer wieder Kartoffeln zu ernten.“
Das ist Randys Philosophie. Und die lebt er mit einer bewundernswerten Beharrlichkeit.
Er schreibt Drehbücher und hat bereits unzählige Flops mit seinen Ideen erlebt.
„Junge, lass dich untersuchen, mit deinem Hirn stimmt etwas nicht“, war wohl eine der härtesten Absagen, die er kassierte. Schließlich wurde es ihm zu bunt. Als sein Vater vor einigen Jahren verstarb, nahm Randy sein gesamtes Erbe und investierte ohne zu zögern in sich selbst – getrieben von der festen Ãœberzeugung eine gute Anlage getätigt zu haben. Und er sollte Recht behalten, denn auf diese Art hatte Randy Stiller die mit Abstand erfolgreichste Comedy-Serie des letzten Jahrzehnts 
produziert. 
Seit dieser Zeit ist er nicht nur als Drehbuchautor tätig; er produziert seine Werke auch selbst und führt Regie bei den Dreharbeiten. Ein Workaholic sondergleichen ... und ein wahrer Glücksfall für mich. Denn Randy, mit dem ich schon seit meinem neunzehnten Lebensjahr befreundet bin, pflückte mich vor drei Jahren von der schäbigsten Bühne der Stadt. Genau zu der Zeit, als es mir am miserabelsten ging. Er setzte mich vor seine Kamera, hob mein Kinn an, klopfte mir den Staub von den Schultern und verpasste mir kurzerhand meine erste Hauptrolle in einem seiner unabhängigen Filme. Vielleicht die beste aller Therapien, denn seitdem bin ich zumindest beschäftigt genug um nicht noch tiefer in mein Loch zu fallen.
Meine Augen fliegen nur so über die Zeilen.  
Das ist gut, durchfährt es mich schon bald. Nein, das ist genial, nur kurze Zeit später. Und ehe ich mich versehe, stehlen sich die ersten Sonnenstrahlen in mein Zimmer und machen das Licht der kleinen Lampe überflüssig. Als die Anzeige meines Weckers 07:30 Uhr zeigt, habe ich die ersten drei Folgen gelesen. Genug, um meine Begeisterung voll entfacht zu haben. Ich richte mich auf, lege das Skript aus den Händen und ersetze es durch meine Gitarre, die wie immer am Fußende meines Bettes lehnt und geduldig ihren nächsten Einsatz erwartet. Die Gedanken an Shirley kehren zurück, doch mit dem Stoff, den Randy mir geboten hat, schaffe ich es dieses Mal schnell, sie zu verdrängen. Meine Finger umklammern den Hals meines Instruments und nur einen Moment später hallt der leise, unverwechselbare Klang meiner alten Gitarre durch den Raum. 

*** 

„Genial oder Müll? Wage es nicht, mich mit einem `gut´ abzufertigen, kapiert? Gut ist wie ein Genickschuss. Also?“
Auch eine Art, begrüßt zu werden. Aber schließlich kenne ich Randy schon ein wenig länger. Also verkneife ich mir den bissigen Kommentar, der bereits auf meiner Zungenspitze tanzt, und antworte stattdessen in aller Aufrichtigkeit mit einem: „Es ist genial!“. Dann erst lege ich meine Jacke ab und nehme ihm gegenüber auf der Sitzbank Platz.
Randy grinst triumphierend. „Ich wusste, dass es dir gefällt. Und der Titel? Wie gefällt dir der Titel?“ 
„`Das Leben in meinem Sinn´?“, frage ich und werde mit einer hektischen Handbewegung abgefertigt.
„Verstehst du die Doppeldeutigkeit?“, will Randy wissen.
In weiser Voraussicht hatte ich meine Bestellung bereits im Hereinkommen aufgegeben. So macht Mario nun einen Bogen um unseren Tisch und lässt mir die Zeit nachzudenken. 
`Das Leben in meinem Sinn´  erzählte die Geschichte von Ron und Lea.
Ron war ein gefrusteter Florist, der seine Kindheit in diversen Waisenheimen verbracht hatte, und als junger Mann bei einem Autounfall ums Leben kam. Durch Clark, einen dunkelhäutigen Engel, wurde er zurück auf die Erde geschickt, um dort seine lange verschollene Sandkastenliebe Lea zu beschützen.
Die Story ist ziemlich abgedreht, doch sie wird funktionieren, das spüre ich. Die Dialoge sind spritzig, die Charaktere überzogen gezeichnet und sehr gut aufeinander abgestimmt.
Randy sieht mich noch immer erwartungsvoll an.
Doppeldeutigkeit des Titels, erinnere ich mich und ernte mit meinem „Ähhm ...“ ein Augenrollen.
Randy schüttelt den Kopf. „Überleg doch mal, der Titel macht durchaus Sinn: RonsWünsche, die er zu Lebzeiten schon hatte, erfüllen sich erst nach seinem Tod. Er ist wieder mit Lea vereint und die beiden verlieben sich ineinander, als sie lernt, ihn zu sehen. Alle Änderungen – außer der Tatsache, dass er ihre Berührungen nicht mehr fühlen kann natürlich – sind in seinem Sinn. Und Lea nimmt ihn als Einzige wahr. Niemand außer ihr kann den Schutzengel sehen oder hören. Ron ist also das Leben in ihrem – ganz speziellen – Sinn.“ 
Es ist nichts Außergewöhnliches für mich Randy euphorisch zu erleben, aber dieses Mal ist er wirklich total aus dem Häuschen. Das Projekt scheint ihm schwer am Herzen zu liegen.
„Wie hast du vor, ihr Problem zu lösen? Dass sie sich gegenseitig nicht fühlen können, meine ich“, hake ich nach. Die Antwort meines Freundes kommt postwendend, wenn auch etwas undeutlich, da er bereits an einem Stück Pizza kaut. „Ich denke nicht, dass ich dafür eine Lösung finden will. Das macht ihre Story doch gerade so einzigartig. Sie verlieben sich ineinander, sehnen sich nacheinander, haben aber das Problem, einander nicht fühlen zu können. Es gibt blinde und taube Menschen, die wunderbar mit ihrer Behinderung leben können, weil ihre anderen Sinne umso geschärfter funktionieren. Vielleicht müssen sie einfach lernen damit umzugehen. Die dabei auftretenden Probleme sind mir doch nur recht. Sie geben mir immer wieder neuen Stoff zum Schreiben.“
Ich nicke und beiße dann in ein Stück Weißbrot mit Kräuterbutter. Natürlich, Randy denkt mit dem Kopf eines Autors.
Nach einer Weile lehnt er sich in seinem Stuhl zurück, greift nach seinem Bier und wirft mir einen prüfenden Blick zu. „Sag mal, wie gefällt dir eigentlich Ron?“
„Gut“, sage ich schulterzuckend, verbessere mich jedoch auf Randys böses Zischen hin schnell. „Sehr gut sogar! Er ist kompliziert und ziemlich verklemmt. Mit all den schlechten Erfahrungen in seiner Vergangenheit wohl auch kein Wunder. Aber ich denke, er hat ein gutes Herz und sehnt sich in seinem tiefsten Inneren sehr nach einem Menschen, der ihn endlich aus seinem Trott reißt. Und dann kommtLea wieder. Zwar erst nach seinem Tod, aber wie du gesagt hast, sie lehrt ihn das Leben auch im Nachhinein noch zu schätzen.“
Ja, es mag ein Schauspieler- und Autorending sein: Wir sprechen über imaginäre Charaktere, als seien sie reale Menschen.
„Es macht bestimmt Spaß ihn zu spielen, mit seinem Trauma und all den Verklemmungen. Du wirst einen guten Typen für ihn brauchen“, stelle ich gedankenverloren fest.
Randy lacht laut auf und beugt sich mit einem verschmitzten Grinsen im Gesicht über den Tisch. „Ja, den bräuchte ich wohl. Kurioserweise hatte ich jedoch an dich gedacht.“
„An mich?“, wiederhole ich überrascht. Wirklich, ich bin überrascht. Für gewöhnlich ist es nicht Randys Art, mir ein Skript zum Probelesen in die Hand zu drücken und mir danach erst zu verkünden, dass er mich dafür als Hauptdarsteller ins Auge gefasst hat. Normalerweise beginnen Gespräche über eine mögliche Zusammenarbeit mit charmanten Worten wie „Schwing deinen Arsch ins Studio, wir machen Probeaufnahmen. Ich hab einen Job für dich!“, oder so ähnlich.
„Ähm, danke!“, sage ich. „Ich ... ja, klar würde ich ihn gerne spielen. Hast du denn schon ...“
Randy winkt ab. „Alles geregelt. Im Herbst wird die Serie starten. Und zwar zur Hauptsendezeit.“ Der Stolz in seiner Stimme ist nicht zu überhören.
„Aber du hast doch noch nicht einmal Probeaufnahmen ...“, entgegne ich verwundert. Wieder winkt er ab. „Ich habe etwas viel Besseres als Probeaufnahmen, Ben. Ich habe mittlerweile einen Namen, weißt du?!“
Mario serviert mir meine Pizza persönlich und wünscht mir einen „Guten Appetit“.
Ich stecke mir das erste Stück in den Mund, verbrenne mich wie immer am geschmolzenen Käse und verfluche mich innerlich dafür, dass mir das jedes Mal wieder passiert. Schnell spüle ich den Bissen mit einem Schluck Bier herunter.  
„Und Lea?“, frage ich. „Wer soll sie spielen?“
Lea ist ein Charakter, der an Fröhlichkeit und Optimismus kaum zu überbieten ist. Ein Sonnenscheinkind, so hätte Shirley sie vermutlich bezeichnet. Ich schüttele den Gedanken an sie aus meinem Kopf und werfe Randy einen fragenden Blick zu. Er grinst noch immer sein typisch unerschütterliches Randy-Grinsen.
„Du hast doch schon eine im Visier!“, stelle ich fest.
Er nickt. „Klaro! Und zwar eine, die für die Rolle wie geschaffen ist.“ 
„Die da wäre?“, frage ich neugierig.
„Sarah Pace“, sagt er im Brustton der Ãœberzeugung. 
Der Name trifft mich fast wie ein Schlag. „Sarah Pace?“, wiederhole ich ungläubig. Das kann er nicht ernst meinen. So größenwahnsinnig ist nicht einmal Randy. Oder doch?
Das unangetastet breite Grinsen meines besten Freundes belehrt mich eines Besseren. Er meint es tatsächlich ernst.
„Randy ...“, beginne ich und kratze mich dabei am Hinterkopf. Sicher, Lea passt perfekt zu Sarah, da gebe ich ihm Recht. Allerdings spielt sie seit Jahren nur noch in Filmen. In wirklich guten Kinofilmen, meistens die Hauptrolle. Ich habe sie alle gesehen. Sie ist in meinen Augen eine der besten Schauspielerinnen derzeit, wenn auch nicht unbedingt eine der berühmtesten. Aber was hat das eine schon mit dem anderen zu tun?
Nein, mit Sarah verbindet man keine dubiosen Gerüchte oder schmutzigen Schlagzeilen – und sie scheint es auch nicht zu interessieren, dass diese Tatsache ihrer Berühmtheit einen Abbruch tun könnte. In regelmäßigen Abständen erscheinen ein paar hübsche Bilder von ihr in den seriöseren Magazinen. Kurze Interviews werden abgedruckt, und in den dazugehörigen Artikeln lobt man die Natürlichkeit der gebürtigen Engländerin immer wieder. Sie lebt seit Jahren in einer offenbar intakten Beziehung mit Daniel Johnson, seinerseits ebenfalls ein großartiger Schauspieler und der Vater ihrer kleinen Tochter. Sarah leistet sich keinerlei Skandale und ist für die Presse das berühmte nette Mädchen von nebenan. Eindeutig keine Seriendarstellerin, sondern ein gestandener Filmstar, der in einer komplett anderen Liga spielt als wir.
Zu denken, Sarah Pace würde das Skript zu Randys Serie auch nur durchblättern, geschweige denn die Rolle der Lea annehmen und sich somit auf Jahre für eine Fernsehproduktion binden lassen, ist also absolut utopisch.
Jemand muss ihm das sagen.
„Randy ...“, beginne ich erneut, noch immer nach den richtigen Worten suchend. Es ist nicht leicht, Randy von einem bereits gefassten Entschluss abzuhalten. Um nicht zu sagen, so gut wie unmöglich.
Sein Grinsen wird nur noch breiter, als er bemerkt, wie sehr ich mich winde. „Was?“, fragt er und funkelt mich durch seine runden Brillengläser an. „Willst du mir erzählen, dass sie ablehnen wird? Oder dass ich vermutlich nicht einmal eine Absage erhalten werde? Dass „Lass dich bloß nicht auf Serien ein“ das oberste Gebot für Schauspieler ist, die es einmal ins Filmgeschäft geschafft haben?“ Er zieht die Augenbrauen hoch.
Seine klare Sicht verwirrt mich. Ich erwidere den herausfordernden Blick mit zusammengekniffenen Augen. Was ...?
Randy winkt Mario heran, steckt ihm einen Geldschein zu, der vermutlich drei unserer Rechnungen begleichen würde, und klopft unserem Lieblingsitaliener wohlwollend auf die Schulter, während der sich überschwänglich bedankt, schnell abräumt und dann das Weite sucht. Als er außer Hörweite ist, beugt sich Randy verschwörerisch über den kleinen Tisch und zwinkert mir zu. „Ich sage dir was, Ben, du irrst dich! Ich habe Sarahs Zusage bereits.“
Meine Kinnlade klappt herab.
„Jepp, da kannst du gucken wie ein Goldfisch“, freut sich Randy. „Gestern Abend, als Marc und ich aus dem Club kamen, hatte ich ihre E-Mail. Deshalb auch mein Anruf. Hättest du das Skript gestern schon gelesen, hätte ich dich auch gestern schon wegen Ron gefragt und dir die Neuigkeiten dann unterbreitet. Sarah ist begeistert und hat keinen Augenblick gezögert. Sie sagte, sie hätte alle drei Folgen am Stück durchgelesen.“ 
„Ich auch!“, wispere ich wie in Trance.
„Gut!“ Randy strahlt und erhebt sich in einer der ruckartigen Bewegungen, die so typisch für ihn sind.
„Gut ist wie ein Genickschuss“, gebe ich – noch immer total verdutzt – seine Worte von zuvor wieder. 
Er lacht und schüttelt den Kopf. „In diesem Fall nicht, Benny-Boy. Du wirst schon bald neben Sarah Pace vor meiner Kamera stehen. Und jetzt komm! In meinem Wagen liegt der Vertrag und Marc erwartet mich zu Hause.“
Wie auf Kommando pfeife ich nach Jack, ergreife seine Leine und trotte hinter Randy aus dem Restaurant. 
Ich bin noch immer wie benommen, als wir seinen Ford Mustang erreichen, auf dessen Dach ich den Vertrag ungelesen unterzeichne. Randy würde mich nie übers Ohr hauen. „Wie lange?“, frage ich lediglich. 
„Zweimal dreizehn Folgen. Die erste Staffel fest, die zweite nur bei entsprechender Nachfrage, sprich Einschaltquote.“
Mit einer Wegwerfbewegung zeigt er mir, wie sehr ihn diese Klausel beeindruckt. Ich nicke und setze meinen Namen auf die letzte der achtundfünfzig Seiten.
„Nur noch eine Frage!“, kündige ich an, als ich Randy den Kugelschreiber zurückgebe. „Warum hast du mich dieses Mal so spät eingeweiht? Wie lange planst du das Ganze schon? Bin ich sonst nicht immer der Erste, den du mit neuen Ideen konfrontierst?“
Randy lacht. „Erstens, du solltest dich noch einmal gründlich mit dem kleinen Einmaleins auseinandersetzen, mein Freund. Das waren drei Fragen. Aber du hast Recht, ich plane das bereits ziemlich lange. Im letzten Juni kam mir die Grundidee. Ende Dezember stand die erste Staffel. Danach ging ich auf die Suche nach Produzenten, denn dieses Ding kann ich nicht alleine stemmen, beim besten Willen nicht. Das wird eine der aufwändigsten Serien aller Zeiten werden. Ein Abnehmer war aber schnell gefunden. Ich hatte sogar eine ziemliche Auswahl, ehrlich gesagt. Dann nahm ich Kontakt zu Sarahs Managern auf, die erwartungsgemäß blockten. Ich ließ aber nicht locker, bis ich ihr das Manuskript für die ersten drei Folgen persönlich übergeben durfte. Das war vor drei Wochen. Ja, und dann standest du auf meiner To-do-Liste ... warum so spät?“ Er grinst, schmeißt den unterschriebenen Vertrag durch das offene Fenster auf den Beifahrersitz und klopft mir auf die Schulter. „Weil ich wusste, du würdest einen Rückzieher machen, wenn ich dir die Zeit dazu ließe. Ich meine, Sarah Pace! Allein die Möglichkeit, sie könne die Rolle doch annehmen, hätte dich abgeschreckt.“
Bevor mir eine schlagfertige Antwort einfallen will, sitzt er schon am Steuer und blickt durch das offene Seitenfenster zu mir auf. „Sarah hat übrigens gesagt, sie würde dich gerne kennen lernen. Sie hat auch schon einen Termin und Treffpunkt festgehalten. Ich leite dir ihre Mail weiter, sobald ich zu Hause bin. Vermassele es nicht, hörst du? Von ihr habe ich noch keinen unterschriebenen Vertrag.“
Damit fährt er die Scheibe des Fensters hoch und tritt das Gaspedal durch. Ich bleibe sprachlos zurück. Stehe nach wie vor mit eingesunkenen Schultern und leicht geneigtem Kopf auf dem Bürgersteig. Reglos.

Jack ist es, der mich endlich aus meinem Gedankenknäuel befreit und im wahrsten Sinne des Wortes zurück ins Hier und Jetzt zieht. Er hat wohl eine Katze gesehen, denn plötzlich höre ich ein kurzes Knurren, gefolgt von einem extremen Ruck an meinem Arm. Und schon sehe ich meinem Hund nach, der mit wehenden Ohren und hinter sich herschleifender Leine die Straße herabprescht. Die Züchterin hatte mich gewarnt: „Ein Beagle, so knuffig er auch aussehen mag, ist und bleibt ein Jagdhund.“
Wie wahr!
Als ich ihn drei Blocks weiter endlich eingeholt habe, bin ich völlig außer Atem und spüre meine Beine kaum noch. Doch mein Verstand ist wieder voll da – und mit ihm die Erkenntnis: Ich werde neben Sarah Pace spielen. Und sie will mich in einem persönlichen Gespräch vorab kennen lernen.
Super, jetzt ist mir auch noch speiübel!

DAS LEBEN IN MEINEM SINN

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