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Als das Klackern ihrer Schritte auf der Treppe immer leiser wurde und schließlich verhallte, schloss ich die Zimmertür hinter mir und ging zum Fenster. 
Verzweifelt versuchte ich nicht zu denken und setzte mich auf das tiefe Fenstersims. Ich lehnte meine Stirn gegen die kühle Scheibe, erhoffte mir Erleichterung. Frustriert pochte ich immer wieder mit dem Kopf gegen das Glas. Es dauerte etwa eine Minute, dann erschien sie auf dem Parkplatz vor unserem Haus, lief zu den beiden anderen Mädchen – meiner Schwester und einer gemeinsamen Freundin – und verabschiedete sich. 
Mein Herz schlug ruhig, doch es schmerzte bei ihrem Anblick so sehr, dass sich meine rechte Hand wie von selbst zur Faust ballte und gegen meinen Brustkorb presste. Es gab keinen Zweifel, dass sie es war, auf die ich so lange gewartet hatte. Wut kroch in mir empor. 
Warum ausgerechnet sie? 
„Michael!“, rief ich ungeduldig und viel zu laut. Mir blieb nicht viel Zeit. 
„Ist sie es, Michael?“ Ich wusste, dass er da war – er war immer da. 
Ein Klatschen ertönte. Er stand hinter mir, lässig gegen mein Bücherregal gelehnt, und lächelte selbstgefällig. Sein Gesichtsausdruck ließ keinen Platz für weitere Spekulationen. Ich lag also richtig, sie war es. 
 

BLESSED - FÜR DICH WILL ICH LEBEN

Leseprobe

„Oh nein!“ 
Bevor ich mehr sagen konnte, tat er es. „Glückwunsch, Noah. Du hast deinen Schützling erkannt.“
„Verdammt, sei still!“, rief ich und hielt mir wie ein Vierjähriger die Ohren zu. Vergeblich. 
„Ah, ah, vergiss nicht, mit wem du redest, mein Junge“, sprach er in meinem Kopf unbeirrt weiter. 
Mit einem schweren Seufzer gab ich meine Ohren wieder frei und blickte zu ihm auf. Sein Gesichtsausdruck wirkte streng, doch das Funkeln seiner gütigen Augen entlarvte ihn. Er war mir nicht böse. Er konnte mich verstehen. Natürlich.
Michael wirkte seltsam fehlplatziert in meinem Zimmer. Er gehörte nicht in einen Raum mit Bett, Schrank und Schreibtisch. Er gehörte an jenen magischen Ort, an dem man all das weder benötigte noch besaß. 
„Warum Emily?“, fragte ich bebend vor Wut. 
Mein Herz hätte vor Zorn rasen müssen, doch es schlug weiter in seinem monotonen, ruhigen Rhythmus. Das Schlagen meines Herzens verwirrte mich immer wieder. Es war so falsch – in vielerlei Hinsicht. 
„Sie ist so ... zerbrechlich. Ich will nicht, dass ihr Leben von mir abhängt. Das kannst auch du nicht wollen.“
„Was? Du traust es dir nicht zu?“, fragte er mit hochgezogenen Augenbrauen. 
Obwohl ich tief in meinem Inneren wusste, dass seine Verwunderung geheuchelt war, wirkte die Mimik so echt, so menschlich, dass er es für einen Moment schaffte, mich zu täuschen. Sein unbeirrbares Lächeln kehrte jedoch zurück und zerstörte die Illusion binnen eines Wimpernschlages.
Ich biss die Zähne aufeinander, senkte meinen Blick und schwieg trotzig. Aber wer war Michael, dass er meine Worte benötigte? Er las in meinen Gedanken, wie in einem offenen Buch. 
„Hab Vertrauen, Noah. Du wirst alles richtig machen.“
„Und wenn ich es richtig gemacht habe und es schaffe sie vor ... was auch immer zu bewahren, dann ...“
„... wird deine Mission hier beendet sein, ja.“ Seine Stimme war so weich wie nie zuvor. Und in Michaels Fall sollte das etwas heißen, denn er hatte die sanfteste Stimme, die ich je gehört hatte. Verglichen damit, klang jedes noch so liebliche Glockenspiel wie ein blechernes Monstrum. Nein, könnte der Wind sprechen – nicht der raue, der peitschend ein Unwetter ankündigt, sondern der laue, warme, der einem Sommerschauer folgt oder am frühen Morgen über die Küste streift und das Versprechen eines herrliches Sonnentages mit sich trägt –, dann würde er mit Michaels Stimme sprechen, dessen war ich mir sicher.
In diesem Moment jedoch ließ mich der zarte Klang völlig unbeeindruckt, denn mit seinen sorgsam gewählten Worten hatte er nichts weiter getan, als mein Todesurteil zu verkünden. 
Dummerweise sehnte ich jedoch ausgerechnet an diesem Morgen zum ersten Mal seit langer, langer Zeit mein Ableben nicht herbei. Und das lag nur an ihr, an Emily.
„Verdammter Mist!“, rief ich und schlug mit der Faust gegen mein CD-Regal. Es schwankte so stark, dass einige herausfielen. 
Michael reagierte auf mein Fluchen lediglich mit einem leichten Schulterzucken. 
„Ich bitte dich, ausgerechnet Emily?“ Es war ein Flehen, auch wenn es wie ein Vorwurf klang. Im Grunde meines stoischen Herzens bat ich Michael um jemand anderen. Ihr so nah zu sein, jeden Tag, mit dem Wissen, dass wir keine Zukunft hatten – nie haben konnten –, wie sollte ich das ertragen? 
„Niemand hat behauptet, dass es leicht werden würde“, sagte Michael. „Du begleitest ihre Wege, du beschützt sie. Das ist deine Aufgabe und der einzige Grund, warum du noch hier bist. Willst du das denn nicht, Noah?“ 
„Nein, das will ich nicht!“, behauptete ich starrsinnig, als würde ich zu irgendjemandem sprechen und nicht zu dem mächtigsten aller Erzengel. 
„So, du willst ihr also nicht nahe sein?“ 
Doch, natürlich, aber nicht so. Der Gedanke war da, bevor ich ihn unterdrücken konnte. 
„Emily ist der letzte Mensch der Welt, dem ich nah sein will“, beharrte ich, auch wenn ich wusste, wie kindisch das klang. 
Wieder sah er mich mit hochgezogenen Augenbrauen an. Nicht erstaunt dieses Mal, sondern tadelnd. 
Ich zuckte unter seinem Blick zusammen. Lügen war ein absolutes No-Go, das wusste ich. „Nicht, wenn es so endet“, fügte ich mit einem Flüstern hinzu. 
In diesem Moment knallte die Tür zum Zimmer meiner Schwester Lucy zu. Emily. Sie war zurückgekommen. Ich wusste, dass sie es war, ich spürte ihre Anwesenheit. Verwirrt sah ich ihn an. 
„Michael, wie lange war sie da? Hat sie ...“
Er hielt meinen Blick und zuckte wieder mit den Schultern. 
Oh, dieses ewige Lächeln! „Sie hat mich gehört und du wusstest ...? Aber warum?“ Wie konnte er dulden, dass sie mich belauschte, während ich mit ihm sprach? Ich warf ihm einen finsteren Blick zu, eilte zu meiner Zimmertür und riss sie auf. 
Emily stürmte bereits die Treppe hinab. Erneut. Sorge durchzuckte mich, als ich an ihren verletzten Knöchel dachte.
„Verdammt! Emily?“, rief ich ihr nach, doch schon im nächsten Augenblick knallte die Haustür ins Schloss ... und sie war weg.


I.

Ringgggg...
Beim ersten Klingeln meines Weckers saß ich im Bett. Sonnenstrahlen durchbohrten die Vorhänge meines Zimmers. Mittlerweile hatte ich mich an den frühen Sonnenaufgang gewöhnt. Das grelle Licht und die Wärme selbst der frühesten Morgenstunden störten mich kaum noch; ich fühlte mich ausgeschlafen und fit. 
Mit einer viel zu ruckartigen Bewegung schwang ich die Beine über die Bettkante und sprang auf. Dumme Idee, natürlich wurde mir sofort schwindlig. Schwärze breitete sich vor mir aus und umhüllte mich wie seidener Stoff. 
Schnell tastete ich nach meiner Kommode, hangelte mich daran herab, setzte mich auf den Fußboden und klemmte den Kopf zwischen meine angewinkelten Knie. Das half meistens ... und auch dieses Mal. Sobald sich die wirbelnden Farben aufgelöst hatten und mein Bewusstsein zu mir aufschloss, drang ein einziger Gedanke an die Oberfläche und setzte sich gegen alle anderen durch:
Der Tag meiner Erlösung ist da. 
Ich erhob mich vorsichtig, wischte mir die zerzausten Haare aus der Stirn und warf einen prüfenden Blick in den großen Standspiegel neben meinem Bett. Das übliche Chaos blickte mir entgegen: Ich trug ein ausgeleiertes, löchriges Tanktop, das vermutlich irgendwann einmal rot gewesen sein musste. Dazu eine blau-weiß karierte Boxershorts meines Bruders, die er sich mal wieder zu klein gekauft hatte. In dieser Klimahölle, in die unser Vater uns verschleppt hatte, leisteten mir Jasons Fehlkäufe in manch einer Nacht gute Dienste. Am schlimmsten aber waren – wie immer – meine Haare. 
Keine Ahnung, wie ich schlief – was um alles in der Welt ich nachts anstellte. Doch die regelrecht verfilzten, rostroten Strähnen, die sich wirr um meinen Kopf schlängelten, teils schlaff herabhingen und teils abstanden, ließen auf wilde Szenen schließen. 
Das Laken, in dem ich mich in diesem Moment mit dem Fuß verfing und stolperte, weil es mal wieder hauptsächlich den Boden und nicht etwa meine Matratze bedeckte, erzählte dieselbe Geschichte. Obwohl ich mir mein Knie schmerzhaft an der Kommode stieß, tat ich den Beinahesturz mit einem Lachen ab, wickelte das Laken um meinen Arm und warf es zurück auf das Bett. 
Sollte jemals ein Mann den Mut aufbringen, neben mir zu schlafen, würde ich mich in peinlicher Erklärungsnot befinden, so viel stand fest. Vorausgesetzt, der arme Kerl überlebte die Nacht an meiner Seite überhaupt. Wie gut, dass ich bisher niemandem Rechenschaft schuldig war. 
Wieder fiel mein Blick in den Spiegel. An anderen Tagen hätte mich der Anblick meiner Haare wohl an den Rand der Verzweiflung getrieben. Doch an diesem Morgen ignorierte ich die Missstände meines Äußeren, wischte mir eine verfilzte Haarsträhne aus der Stirn und gönnte meinem Spiegelbild sogar ein ermutigendes Grinsen. Heute war alles anders. Der erste Tag meines neuen, unbehelligten Lebens brach an. 
Gut, das war vielleicht ein etwas theatralischer Blick auf den Stand der Dinge, aber Fakt war, dass ich mich zum ersten Mal seit unserer Ankunft hier auf die Schule freute. 
Ich freute mich auf meine bisher einzige Freundin Kathy, die erst am Vortag aus ihrem Feriencamp heimgekehrt war, auf einige andere Schüler meiner Stufe und kurioserweise sogar auf manch einen Lehrer. Am meisten jedoch – und das war der eigentliche Grund für meine gute Laune – freute ich mich auf neue Schüler. 
Ich erwartete niemanden Bestimmtes, im Gegenteil. Wer kommen würde, war mir völlig egal. Ich freute mich auf die Ankunft neuer, fremder Schüler, die mich nach den nervenzehrenden Monaten vor den Sommerferien endlich von meinem unfreiwilligen Sonderposten ablösen würden. Ab heute war ich nicht mehr die Neue. 
Soweit ging zumindest meine Hoffnung, auf die ich mich innerhalb der letzten Wochen dermaßen versteift hatte, dass sie mittlerweile einer Gewissheit glich. Ich war mehr als zuversichtlich, heute mal ausnahmsweise nicht wie ein Affe im Käfig angegafft zu werden.

Zwei Monate vor den großen Ferien waren wir nach Little Rose gezogen. Wir, das waren mein Vater David, mein Bruder Jason und ich. Dad war als einer der besten Filmregisseure Englands bekannt. Nach dem Erfolg seines letzten Films bekam er gleich mehrere Angebote großer amerikanischer Filmstudios, die er selbst als unablehnbar bezeichnete. Eine Zeit lang hatte er mit dem Gedanken gespielt, zwischen Manchester und L.A. hin und her zu pendeln. Doch als ihm klar wurde, dass die Dreharbeiten mindestens anderthalb Jahre beanspruchen würden, diskutierte er den Umzug mit uns. 
Ich schlug vor, er sollte doch alleine gehen, doch mein Dad wäre nicht mein Dad gewesen, hätte er das tatsächlich getan. Niemals hätte er uns allein in England zurückgelassen. Mit viel Geschick hatte er unsere kleine Familie nach dem frühen Tod meiner Mutter schon durch einige Krisen und weitaus weniger glamouröse Zeiten manövriert, und so schuldete ich ihm einfach den Gefallen, tapfer mit seinem Entschluss umzugehen. Leicht fiel mir das nicht. Ich liebte England nämlich und ganz besonders mein Manchester. 
Mit der prallen Sonne, die hier an durchschnittlich 325 Tagen im Jahr schien, konnte ich überhaupt nichts anfangen. Andauernd wurde mir schwindlig vor Hitze und meine anfänglichen Hautprobleme entpuppten sich schnell als eine Allergie gegen Sonnenschutzmittel. Gegen alle. Mir blieb also die Wahl zwischen ungeschützt und verbrannt oder eingecremt und hoffnungslos verpickelt, Juckreiz inklusive – und so lief ich ständig mit hochrotem Kopf durch die Gegend. Meine von Natur aus blasse britische Haut wehrte sich schlichtweg gegen die Sonne, was sollte ich tun?
Mein älterer Bruder Jason hatte mit der Umstellung keinerlei Probleme. Gesegnet mit den Genen unserer Mum – unempfindliche Haut und dunkelbraunes Haar – fieberte er dem Umzug nach Kalifornien förmlich entgegen. 
So sehr ich mich auch bemühte, ich empfand nicht einmal den Hauch von Jasons Begeisterung, als wir in den Vereinigten Staaten von Amerika ankamen. Ich vermisste alles, was mein ehemaliges Zuhause ausgemacht hatte: Meine Freunde, meine Schule, das Wetter und vor allem Jane, unsere liebe Haushälterin, die sich so lange um uns Kinder gekümmert hatte. Sie wollte England nicht verlassen, nicht einmal für uns. Dad hätte das ganze Unterfangen daraufhin beinahe wieder abgeblasen, aber mit Jason im Nacken und den verlockenden Verträgen am Haken entschloss er sich schließlich doch zu gehen.
Mein erster Tag in den USA verlief niederschmetternd. 
In einer Limousine, angemietet durch die neue Produktionsfirma meines Vaters, chauffierte uns ein älterer Mann namens Sam vom Flughafen zu unserem neuen Haus. L.A. selbst war ... nun ja, in meinen Augen charmelos und unspektakulär. Protzig anmutende Palmenalleen und Parks, die mich an die Grünanlagen von Disneyland erinnerten, wechselten sich in anderen Stadtteilen ab mit breiten, teils stark beschädigten Straßen und Gebäuden mit flachen Dächern und abblätterndem Putz. 
Am Rande der kalifornischen Stadt säumten ordentlich gepflasterte Gehwege die Straßen. Die Häuser dieser Gegend schienen aus ihren akkurat angelegten Vorgärten zu wachsen und erinnerten mich an das nostalgische Puppenhaus meiner Oma, mit dem ich als Kind nie hatte spielen dürfen. 
„Nur ansehen, nicht anfassen!“, hörte ich ihre lange schon verstummte Stimme noch einmal, während Sam die Limousine über hellgraue Straßen lenkte. Ja, genauso wirkten diese Häuser auf mich. Bloß nicht anfassen!
Und so ging es weiter: die riesigen HOLLYWOOD-Buchstaben, die Palmen in der Mitte der Straße, die getrimmten Laubbäume auf den Gehwegen, die Brücken, die in der Realität noch viel gewaltiger wirkten als auf dem Fernsehbildschirm. Hier war rein gar nichts vertraut. Bestimmt lebten zu 99,9 Prozent Snobs in diesen protzigen Häusern, und ich würde mich mit Händen und Füßen dagegen wehren, eines Tages zu ihnen zu gehören, so viel stand fest. 
Ich musste einfach nur die Highschool hinter mich bringen, dann konnte ich fürs Studium zurück nach England gehen. 
Jason dagegen flippte neben mir vollkommen aus. Mein Bruder – laut Ausweis zwei volle Jahre älter als ich – klebte förmlich an dem getönten Seitenfenster der Limousine und wusste vor lauter Begeisterung gar nicht mehr wohin mit sich.
Nach einer knappen Stunde Fahrtzeit fuhr Sam durch ein schmiedeeisernes Tor, dessen Flügel er per Knopfdruck öffnete. Weiße Steinchen der gigantischen Auffahrt knirschten unter den Reifen, bevor der Wagen endlich hielt und Jay beim Anblick unseres neuen Hauses aufjubelte. Genervt hievte ich mich aus dem Ledersitz und warf die Tür hinter mir zu. Keine Sekunde länger hätte ich es neben diesem Spinner ausgehalten. 

Das Haus war genial, zugegeben, aber weder der riesige Garten mit Pool, noch mein 25 qm großes Zimmer mit eigenem Bad konnten mich lange trösten. Wie gerne hätte ich diesen Raum mit all seinen hellen Möbeln gegen mein deutlich kleineres, schlichtes Zimmer in Manchester zurückgetauscht. Dad gegenüber tat ich so, als wäre alles wunderbar. Ich versuchte wirklich jedes Detail zu würdigen: die cremefarbenen Vorhänge, die dezente Bettwäsche und die weißgebeizten Holzmöbel. Groß, hell, freundlich, einladend. Es war wirklich perfekt und absolut nach meinem Geschmack. Eigentlich. 
Langsam legte sich ein Lächeln über das Gesicht meines Vaters, doch es war eines der traurigen Art. „Emily, es ist nicht für immer, versprochen.“ 
Seine Worte klangen so entschuldigend, dass ich nicht wagte ihn anzusehen, aus Angst sofort loszuheulen. Also starrte ich auf meinen wohlbestückten Schreibtisch und wartete darauf, dass das Brennen hinter meinen Lidern nachließ. 
„Ich hab doch gar nichts gesagt“, antwortete ich leise, sobald ich meiner Stimme wieder traute. 
„Ich weiß.“ Er nickte und presste die Lippen zusammen. „Das brauchst du auch nicht. Ich sehe dir doch an, wie schwer es dir fällt. Und wie sehr du dich bemühst, es mich nicht spüren zu lassen.“ 
„Dad, es…“ 
Er winkte ab. „Nein, du musst dich nicht entschuldigen, Emmy. Ich kann dich ja verstehen.“ Mit einem Seufzer ließ er sich auf meine Bettkante fallen. Er sah abgespannt aus, als er mit den Handballen über seine geschlossenen Augen rieb und mich dann wieder ansah. 
„Mir wird Manchester auch fehlen”, gestand er. „Vielleicht verstehst du das nicht. Vielleicht denkst du, dass ich doch sowieso andauernd unterwegs bin, aber Manchester war immer mein Anker, weißt du? Meine Heimat eben. Unser Haus wartet auf uns, wir gehen wieder zurück, versprochen. Aber ... für die kommende Zeit ... lass uns zumindest versuchen hier zurechtzukommen, okay?“
„Ja, sicher“, erwiderte ich schnell. Es tat mir weh, ihn so zu sehen, und ich verfluchte mein nicht vorhandenes Schauspieltalent. 
In diesem Moment stürmte Jason in mein Zimmer. Ohne anzuklopfen, natürlich. Doch dieses Mal ärgerte ich mich nicht über ihn; sein polterndes Erscheinen löste sogar eine kleine Erleichterung aus. Manche Dinge würden sich wohl nie ändern, ganz egal, wo wir gerade lebten. 
„Das Haus ist der Hammer, Dad!“, schrie Jay in seiner Aufregung. „Riesig und cool. Voll Hollywood. Der Billardtisch ist der Wahnsinn, wirklich. Und…“ 
Moment mal, bitte was? 
„Wir haben einen Billardtisch?“, entfuhr es mir voller Entsetzen. 
Verdammt, wir waren bereits Snobs.

Am nächsten Morgen – ohne jede Schonfrist und mitten im laufenden Schuljahr – begann mein neuer Alltag.
Die Schule war mittelgroß, es gab zirka fünfhundert Schüler. Endlich mal etwas, das nicht größer und formidabler war, als ich es von zu Hause aus kannte. Wäre die Schule jedoch ein wenig größer gewesen, dann hätte ich vielleicht nicht solch ein Aufsehen erregt. Aber so – in der überschaubaren Menge meiner Mitschüler – sah jeder auf den ersten Blick, dass ich hier neu war. Zum wohl tausendsten Mal in meinem Leben verfluchte ich meine rötlich wallende Mähne, die an Auffälligkeit kaum zu überbieten war.
Die zwanzig Meter über den breiten Korridor bis zur rettenden Tür des Sekretariats kamen mir wie ein Spießrutenlauf vor. Dort begrüßte mich eine nette Dame, hakte meinen Namen in einer Liste ab und fragte, ob sie mich zu meinem ersten Klassenraum begleiten solle. Ich lehnte ab, noch ehe sie ihr Angebot überhaupt ausformulieren konnte. Die gute Frau reichte mir einige Formulare, die ich noch ausfüllen musste, und ein paar andere, die ich ihr von den Lehrern unterschrieben zurückbringen sollte. Dann entließ sie mich auch schon wieder mit einem freundlichen Lächeln. „Ich wünsche dir einen wunderschönen ersten Tag, Liebes.“ 
Hmpf. Ja, klar! Ich schluckte schwer, rang mir ein Gegenlächeln ab, das mit Sicherheit den Anschein erregte, ich würde an Blähungen leiden, und wandte mich ab. 

Das erste Fach auf meinem Plan war Geschichte. Als ich den Raum betrat, herrschte völliges Chaos. Während die Jungs sich wie Zweitklässler gegenseitig mit Kreidestücken, Papierfliegern und dem wassergetränkten Tafelschwamm bewarfen, standen die Mädchen in mehreren kleinen Gruppen zusammen, kicherten albern und lästerten provokativ über die Mädchen der jeweils anderen Gruppen. 
Zunächst nahm niemand Notiz von mir, doch es kam, wie es kommen musste: Ein ziemlich breit gebauter Junge lief rückwärts, um einen der Flieger aufzufangen. Natürlich rempelte er ausgerechnet mich dabei so stark an, dass mir die Bücher aus dem Arm fielen und lautstark auf den Laminatboden klatschten. Er wirbelte zu mir herum und sah mich sekundenlang wie eingefroren an. „Wow! Du hast die grünsten Augen, die ich je gesehen habe, Kleines“, ließ er mich endlich wissen. Und mit diesem Spruch richteten sich schlagartig siebzehn Augenpaare auf mich. Plötzlich war es so ruhig im Raum, dass man die berühmte Stecknadel hätte fallen hören können. Doch die Stille währte nur kurz, bevor Pfiffe und schallendes Gelächter einsetzten. Na super!
„Du bist die Neue. Emily, richtig?“ Das Mädchen, das mich mit diesen Worten so gnädig erlöste, saß allein an dem Tisch, vor dem ich stand, und beteiligte sich nicht an den Lästereien unserer Mitschülerinnen.
Sehr sympathisch! 
„Ja genau. Hallo!“, erwiderte ich und erschrak vor meiner eigenen Stimme, die vor Nervosität deutlich bebte. Schnell räusperte ich mich. 
„Ich bin Kathy”, stellte sich das Mädchen vor. 
Kathy trug eine schmale Brille, war dunkelblond, blauäugig und ziemlich unauffällig – weit entfernt von hässlich, aber auch nicht übermäßig hübsch. Durchschnittlich, stellte ich erleichtert fest, und beschloss, dass sie ein erstes aufrichtiges Lächeln wert war. Durchschnittlich war gut. Kein Snob. Nein, so sah sie in ihrem simplen T-Shirt und den modischen Bluejeans irgendeiner No-Name-Marke wirklich nicht aus. 
Seeehr sympathisch. Dass die Chemie zwischen uns beiden von der ersten Sekunde an stimmte, blieb das einzig Positive dieses Tages. 
Offensichtlich hatte es sich im Vorfeld bereits herumgesprochen, dass die Neue die Tochter eines Produzenten und Regisseurs war. Sobald wir die Klassenräume wechselten, bildeten sich Trauben neugieriger Mitschüler um mich herum, die mich mit unzähligen Fragen bombardierten. 
Zu Hause in Manchester hatte ich nie im Mittelpunkt gestanden. Ich war weder besonders beliebt, noch verhasst. Nur, na ja ... schwer wahrnehmbar. Wie ein Schluck Wasser: Ich schmeckte nicht besonders, schadete aber auch niemandem und konnte bisweilen sogar nützlich sein, ohne danach zu lange im Gedächtnis zu bleiben. Das Modell Graue Maus stand mir gut und hatte, bis zu diesem Tag, immer prächtig funktioniert. Doch hier, in diesem fremden Land, an diesem neuen Ort, scheiterte meine Strategie. Am liebsten hätte ich mich irgendwo verkrochen. Tief, tief unter der Erdoberfläche. 
Kathy schien sich als Einzige nicht im Geringsten dafür zu interessieren, was mein Dad machte, wie groß unser Haus war und ob ich schon zum Shoppen in die Stadt gefahren war. Ein tipptopp gestyltes, hellblondes Mädchen namens Holly, fragte schließlich das, was wohl einigen anderen ebenso auf den Zungen brannte: „Du hast deinen Dad doch sicher schon zu den großen Preis-Verleihungen begleitet, nicht wahr? Kennst du viele Stars? Zac Efron vielleicht oder ... Johnny Depp? Was ist mit ...?“ Als ich mit einem Kopfschütteln antwortete, das sich mit jedem folgenden Namen wiederholte, kassierte ich zunächst enttäuschte, später sogar ungläubige Blicke. Als würde ich mich weigern, mein exklusives Leben mit ihnen zu teilen. Ich war mir ziemlich sicher, jetzt schon als Emily, die arrogante Tochter dieses britischen Regisseurs, einen zweifelhaften Bekanntheitsgrad erlangt zu haben. 
Nur zwei der Hartnäckigsten hielten mir auch nach den ersten Wochen noch die Treue. Das war zum einen Tom, mit dem ich an meinem ersten Tag so unsanft zusammengestoßen war und der mich oft an einen gigantischen Teddybären erinnerte. Er war groß und stämmig und litt offenbar unter Alzheimer im fortgeschrittenen Stadium. Er konnte sich mein Nein bezüglich eines Dates keine zwei Stunden merken. Ungefähr fünfmal täglich holte er sich seine Abfuhr ab, was weder seiner blendenden Laune, noch unserer lockeren Freundschaft einen Abbruch tat. Tom mochte nicht der Hellste sein – wahrscheinlich würde er das College nur aufgrund eines Baseballstipendiums besuchen dürfen –, aber er war durchaus amüsant. 
Und dann war da natürlich Kathy, die schnell zu einer echten Freundin wurde. Meiner einzigen echten Freundin. 
Alles in allem entspannte sich die Lage jedenfalls deutlich. 
Ich fing gerade an, mich einigermaßen wohl zu fühlen, da kam er: Jason. Ungebeten, unerwartet und ganz gewiss nicht uneigennützig, tauchte mein gutaussehender Bruder drei Wochen nach meinem ersten Tag vor der Schule auf und zerstörte meine mühevoll erarbeitete Ruhe damit schlagartig. Lässig stand er in der Eingangstür, seinen Motorradhelm in der einen, einen weiteren in der anderen Hand, und grinste mich breit an. Ich wusste genau warum er hier war. Dieser erbärmliche … 
„Jay, mach, dass du hier wegkommst!“, zischte ich zwischen zusammengepressten Zähnen hindurch, während ich mich an ihm vorbeiquetschte. 
„Warum? Du hast es in drei Wochen nicht geschafft, auch nur eine gutaussehende Freundin mit nach Hause zu bringen. Also musste ich jetzt langsam mal zur Tat schreiten, meinst du nicht?“
„Gott, Jason, musst du denn nicht studieren?“, maulte ich genervt.
Er zuckte nur mit den Achseln. „Nö, erst im Oktober, weißt du doch. Bis dahin bin ich frei wie ein Vogel.“
Super! Schon spähten die ersten Mädels zu uns herüber. 
Jason sah wirklich gut aus, das musste sogar ich als seine Schwester zugeben. Mit seinen dunklen Wuschelhaaren und den jeansblauen Augen, in denen immer etwas Kindliches, Unbeschwertes funkelte, stahl er sich mühelos in die Herzen der Mädchen ... und brach eines nach dem anderen. 
Natürlich verfehlte sein Auftritt nicht seine Wirkung. 
Nur einen Tag später – nachdem ich hundertmal klargestellt hatte, dass Jason nicht mein Freund, sondern mein großer Bruder war – scharten sich die Mädels unserer Stufe wieder nur so um mich, getrieben von der Hoffnung auf ein Wiedersehen mit Jason. 
Erschöpft zählte ich den Countdown bis zu den Sommerferien. 

Aber ab heute – so versicherte ich meinem Spiegelbild an diesem entscheidenden Morgen und zwang mich damit zurück in die Gegenwart –, ab heute würde alles vollkommen anders werden. 
Dieser Tag würde neue Schüler mit sich bringen, denn die gab es schließlich in jedem beginnenden Schuljahr. Egal ob sie frisch hinzugezogen waren oder einfach die Schule gewechselt hatten, sie würden die Aufmerksamkeit der hungrigen Meute für einige Tage oder sogar Wochen auf sich lenken. Wenn es schlecht lief, würden wir vielleicht nur ein paar ältere Schüler bekommen, die eine Ehrenrunde drehen mussten, aber selbst das würde vermutlich funktionieren. So oder so: Ich war nicht mehr die Neue. 
Zufrieden begab ich mich unter die Dusche. 
Als ich die Knoten meiner Haare mithilfe einer Unmenge Shampoo und Pflegespülung entwirrt und die Locken über meiner Rundbürste glattgeföhnt hatte, entschied ich mich für eine schlichte graue Bluse und meine verwaschene Lieblingsjeans. Pfeifend und für meine Verhältnisse nahezu leichtfüßig lief ich die Treppe hinab, schnappte mir im Rausgehen einen Apfel und verließ das Haus.


II.

Wie immer, wenn ich das winzige Fahrzeug auf dem viel zu großen Stellplatz erblickte, legte sich ein Grinsen über mein Gesicht. Mein Mini! 
Schwarz-weiß glänzte der Lack in der warmen Morgensonne. Ich liebte dieses Auto, es war mein ganzer Stolz. Mein Dad hatte es mir zum Geburtstag geschenkt. Oder zum bestandenen Führerschein, wie auch immer. Denn den hatte ich in Rekordzeit gemacht und die Prüfung direkt an meinem siebzehnten Geburtstag absolviert. Überglücklich hatte ich die kleine Karte entgegengenommen. Der große Schriftzug in der Kopfzeile, CALIFORNIA, störte mich ein wenig, aber Himmel, es war ein Führerschein. Nein, nicht irgendeiner. Mein Führerschein. 
Summend fuhr ich die breite, palmengesäumte Straße entlang. Unser Leben hier kam mir immer noch wie ein zu lang geratener Urlaub vor, und meine Sehnsucht nach England war mitunter unerträglich groß. Doch an diesem Morgen hatte ich keine Muße für Heimweh. Dafür war ich viel zu gut gelaunt.
Kathy wartete schon vor der Schule auf mich. Die Arme um ihre Bücher geschlungen, hüpfte sie freudig auf und ab, als ich um die Ecke bog. 
„Emily, hallo!“, rief sie und lief mir entgegen. Mitten auf dem Parkplatz fielen wir uns in die Arme. 
„Mann, es war ʼne verdammt lange Zeit ohne dich“, gestand ich und drückte sie an mich. 
„Ja, zu lang“, erwiderte Kathy mit einem Nicken. „Aber es ist auch viel passiert. Ich war doch in diesem Camp, und anfangs dachte ich, es würde furchtbar langweilig werden, aber dann ...“ Und schon hatte sie sich bei mir untergehakt und versank mit jedem Schritt tiefer in ihrem ausgiebigen Ferienreport. 
Seite an Seite überquerten wir den Pausenhof. Ich liebte Kathys unbeschwerte Art. Sie war eigentlich immer gut gelaunt und der Gesprächsstoff ging ihr niemals aus; dennoch verfügte sie über ausreichend Einfühlungsvermögen, um nicht nervig zu werden. Und sie war eine geduldige Zuhörerin. Nur ihr hatte ich erzählt, wie sehr ich England wirklich vermisste und nur sie hatte mich schon in unserem neuen Haus besucht. Jason schenkte ihr nicht mal die leiseste Beachtung und Kathy ließ das völlig kalt. Wie bereits erwähnt: seeehr sympathisch, das Mädel.
Als ich nun ihren fröhlichen Schilderungen lauschte, bemerkte ich, wie sehr ich sie wirklich vermisst hatte und war dankbar dafür, in meiner kurzen Zeit hier schon eine so gute Freundin gefunden zu haben. Wir besuchten fast alle Kurse zusammen und auch unsere Spinde standen nahe beieinander. 
Ins Gespräch vertieft, schlossen wir unsere Taschen mit den nicht benötigten Büchern ein und machten uns anschließend auf den Weg zu unserer Geschichtsklasse, als Tom plötzlich laut rufend auf uns zustürmte. Während er mich anhob und sich mit mir im Arm um seine eigene Achse drehte, überkam mich – nebst Schwindelanfall – eine Erkenntnis, die mich unerwartet tief traf: Sie haben mich tatsächlich vermisst.
Im Klassenraum herrschte ein noch heftigeres Chaos als sonst. Ausgelassene Wiedersehensfreude und der eindeutig zu hohe Testosteronspiegel der Jungs prallten aufeinander und sorgten für ohrenbetäubenden Lärm, bis Mr Sheppard die Klasse betrat und lautstark um Ruhe bat. Gewohnt nüchtern begann er das neue Schuljahr, indem er noch einmal seinen Namen an die Tafel schrieb und direkt darunter das Thema, das wir in den kommenden Wochen behandeln würden. Französische Revolution. Na super, schon wieder. 
Geräuschvoll pustete ich mir die Haare aus der Stirn. Das fing ja echt gut an. Dieses Thema war in England schon grottenlangweilig gewesen. Die Vorstellung, dass Mr Sheppard – mit seiner ohnehin schon einschläfernden Art – ausgerechnet diesen zermürbenden Stoff behandeln würde, war schlichtweg grausam. Ich seufzte schwer und ließ meinen Blick durch den Klassenraum wandern. Enttäuscht fiel mir auf, dass kein einziges neues Gesicht zu sehen war. Mist! Doch gerade als meine positive Laune wie ein Kartenhaus zusammenzufallen drohte, klopfte es an der Tür. Im nächsten Moment wurde sie geöffnet und ein Mädchen trat ein. Na ja, trat ein traf es nicht so ganz. Eigentlich sprang sie eher herein, mit weit ausgebreiteten Armen, in einer sich selbst präsentierenden Geste. 
Sie war klein und zierlich, hatte riesige dunkle Augen und ebenso dunkle, schulterlange Korkenzieherlocken, die ihre fein geschnittenen Gesichtszüge umrahmten. 
Ihre Bewegungen waren grazil und anmutig ... und wirkten völlig fehlplatziert, als sie mit einem eleganten Satz über die Schwelle des Klassenraums sprang und mit hochgerissenen Armen direkt vor Mr Sheppards Pult zum Stehen kam. Ihr Auftritt wirkte wie der einer Ballerina, die soeben ihr Solo beendet hatte und nun auf ihren Applaus wartete. Das Mädchen war bildhübsch ... und definitiv neu, dessen war ich mir sicher. 
Noch ehe ich realisierte, dass ich mit offenem Mund dasaß, ging ein Raunen durch die Klasse, unmittelbar gefolgt von den spitzen Schreien einiger Mitschülerinnen, die im selben Moment aufsprangen und sich ungläubig Luft zufächelten. Auch Kathy gehörte dieser offenbar fassungslosen Gruppe an. 
„Lucy!“, riefen andere, die sich ebenfalls ruckartig erhoben und ihre Stühle dabei lautstark über den Boden zurückschoben. Und dann setzte der Herdentrieb ein. Sämtliche Schüler stürmten auf das winzige Mädchen namens Lucy zu; nur ich blieb verdutzt zurück. Die anderen umarmten die offenbar doch nicht ganz so Neue der Reihe nach und überhäuften sie mit tausend Fragen. 
Sie lachte. Fröhlich, hell und glockenklar. Der Klang ihrer Stimme passte perfekt zu ihrem Äußeren. „Mann, ich wusste gar nicht, dass ihr wieder da seid“, oder „Wir haben dich so sehr vermisst“, oder „Seid ihr nur zu Besuch hier oder bleibt ihr?“, waren Sätze, die ich aufschnappte. Nur Lucys Reaktionen konnte ich bei diesem Geräuschpegel nicht hören. Entweder war ihre Stimme zu sanft, was mich nach dem Klang ihres Lachens nicht verwundert hätte, oder sie war zu überwältigt von diesem herzlichen Empfang, um überhaupt antworten zu können. Allerdings schloss ich aus dem unmittelbar einsetzenden Gekreische der Mädels und dem Grölen der Jungs, dass Lucy die bange Frage nach ihrer Aufenthaltsdauer zur allgemeinen Zufriedenheit beantwortet hatte. Für kurze Zeit wurde es ein wenig ruhiger und ich lauschte gespannt, um irgendetwas von der Unterhaltung mit dem neuen Mädchen mitzubekommen, als plötzlich ein erneutes Raunen durch die Traube meiner Mitschüler ging. Ich konnte nicht erkennen, was der Auslöser dafür war, so dicht standen alle um Lucy herum.
„Adrian!“, rief Tom. Als wäre sein Ausruf ein Signal gewesen, steigerte sich der allgemeine Geräuschpegel schlagartig wieder zu dem aufgeregten Begrüßungsgejohle von zuvor. Ich versuchte, einen Blick auf diesen Adrian zu erhaschen, doch es war unmöglich. 
Wahrscheinlich ist er nicht viel größer als Lucy, schoss es mir plötzlich durch den Kopf.
Erst als sich Mr Sheppard Minuten später endlich durchsetzen konnte und unter der Androhung von Klassenbucheinträgen zur Ruhe rief, lichtete sich die Horde der Schüler langsam. Die ersten setzten sich zurück auf ihre Plätze ... und dann sah ich ihn. 
Seine Gesichtszüge waren geradlinig und schön. Sie wirkten so eben, als wären sie gemeißelt – das Meisterstück eines großen Bildhauers. Der Junge hatte warme braune Augen, die längst nicht so dunkel wie Lucys waren, und um seinen Kopf wellte sich hellbraunes Haar. Im Licht der Sonne, welches das Klassenzimmer gewohnt grell durchflutete, glänzte es beinahe golden. 
Ebenso wie Lucy, grinste auch Adrian über das ganze Gesicht. Nicht verlegen oder peinlich berührt, sondern offen und glücklich. Absolut sympathisch. Mit nur einem Blick erkannte ich, dass die beiden Geschwister sein mussten; sie ähnelten einander sehr. Kathy setzte sich zurück neben mich und wirbelte dabei die Luft ein wenig auf. Ich spürte den sanften Zug an meinem Zäpfchen und realisierte, dass ich schon wieder mit offenem Mund dasaß. Weitere peinliche Sekunden verstrichen, bis mir endlich wieder einfiel, wie man die Kinnlade schloss. 
Adrian, ließ seinen Blick durch das Klassenzimmer gleiten und blieb dabei an mir hängen. Er lächelte und nickte mir kurz zu. Was für eine Geste. So erwachsen und … höflich. Ich nickte hastig zurück und senkte dabei schon verlegen meinen Blick. 
„Mr Franklin, nehmen Sie doch dort drüben am Fenster … ähm … Platz”, sagte Mr Sheppard in diesem Moment. Sein leicht verunsicherter Ton blieb mir nicht verborgen, aber ich konnte seine offensichtliche Verklemmung noch nicht einordnen. Der Typ war ohnehin eigenartig.
„Sehr gerne, ich rolle“, erwiderte Adrian fröhlich und setzte sich in Bewegung. Jetzt erst bemerkte ich es: Er saß in einem Rollstuhl. Sein schönes Gesicht hatte mich so sehr vereinnahmt, dass mir nichts anderes an ihm aufgefallen war. Nun jedoch sah ich, wie stark sein Oberkörper gebaut war und wie schmächtig seine Beine dagegen wirkten. 
Mühelos manövrierte er sich durch den schmalen Gang. 
Die anderen Schüler erwiesen sich als eingespieltes Team, was den Umgang mit Adrians besonderer Situation anging. Sofort rückten sie auf der einen Seite des Klassenzimmers etwas enger zusammen, um den Gang zwischen der Fensterreihe und den Tischen in der Mitte des Raums zu verbreitern. Wie selbstverständlich entfernte jemand den nun überflüssigen Stuhl neben Tom. Adrian rollte ungehindert an den Tisch. Er und Tom begrüßten sich mit einem freundschaftlichen Klaps auf die Schulter und einem komplizierten Abschlagritual, das zwar ein wenig eingerostet wirkte, aber den beiden dennoch ein Grinsen entlockte. 
Lucy nahm derweil direkt an dem Tisch vor mir Platz, neben dem schüchternen Lee, der so sehr strahlte, dass seine sonst so blassen Wangen glühten. Lucy erwiderte seine Freude ohne Zurückhaltung und drückte unbefangen seinen Oberarm. Das war auffällig, zumal keines der anderen Mädchen Lee je berührt hatte. Schlaksig, mit Hornbrille und seiner Leidenschaft für PC-Spiele und Mathematik, galt er als Freak, wenn auch als harmloser. Zu intelligent, um massentauglich unterhaltsam zu sein. Toms Gegenstück, wenn man so wollte. Lucy schien es jedoch nichts auszumachen, dass Mr Sheppard ihr den Platz neben einem der unpopulärsten Schüler der Stufe zugewiesen hatte.
„Wo ist ... ähm ... Noah?“, flüsterte Kathy. 
Lucy wandte sich noch einmal kurz zu uns um. „Er ist im selben Kurs wie wir. Kommt bestimmt gleich nach“, erklärte sie mit einem Schulterzucken. Dann fiel ihr Blick auf mich. „Hallo, ich bin Lucy“, sagte sie freundlich. 
„Emily”, grüßte ich stocksteif zurück und fragte mich im selben Moment, warum ich mir so mickrig vorkam. Hitze durchflutete meinen Körper und zog sich fast schon schmerzhaft intensiv durch meine Wangen. Ohne jeden Zweifel war mein Gesicht mal wieder feuerrot. Dabei schien Lucys Lächeln aufrichtig zu sein – ohne versteckte Rivalität oder sonstige Hintergedanken. Selten unter Mädels unseres Alters. Dennoch hatten mich kein argwöhnischer Blick und kein unterkühltes Lächeln je so verunsichert wie Lucys offener, herzlicher Gruß. 
Sie drehte sich erst wieder um, als Mr Sheppard mit strenger Miene Aufmerksamkeit forderte. „Leute, aufgepasst! Sicher ist es schön, dass ihr euch wiederseht, aber ihr habt schließlich die Pause und jede Menge Freizeit, um euch auszutauschen. Also, wenden wir uns wieder der Französischen Revolution zu. Eure Bücher bitte, Seite 234.“ 
Lucy grinste Lee noch einmal an, drückte dabei wieder seine Hand und schlug dann ihr Buch auf. 
Fragend sah ich Kathy an, die meinen Blick sofort richtig verstand. Sie kritzelte auf den Rand ihres Schreibblocks. Neugierig wie ich war, las ich bereits, während sie noch schrieb.

Adrian und Lucy Franklin. Sie haben früher hier gelebt, waren aber die letzten 2 1/2 Jahre irgendwo in Frankreich 
(Mutter ist Französin). Zu den beiden gehört noch ein Ado…

In diesem Moment schreckte ich hoch, denn die Tür wurde erneut aufgerissen. Bedeutend brüsker dieses Mal, ohne ein ankündigendes Klopfen. Mit weiten, festen Schritten betrat ein Junge den Klassenraum. 
Ein kurzer Blick auf ihn wäre mit Sicherheit ausreichend gewesen, um Adrian vom Thron meiner mentalen Rangliste der bestaussehenden Typen auf seinen ewigen zweiten Platz zu verdrängen. Ja, ein einziges Blinzeln hätte vermutlich genügt ... hätte ich meinen Blick nur wieder von ihm lösen können. 
Denn dieser Junge, der lediglich mit einem zweifelhaften Brummen begrüßt wurde, auf das er in keiner Weise reagierte, war wirklich unfassbar schön. Auch er hatte ebene, symmetrische Gesichtszüge. Seine Nase war schmal und gerade, die Augen auffallend hell – ohne dass ich in diesem ersten Moment ihre Farbe hätte bestimmen können –, die Lippen voll und perfekt geschwungen. Hohe Wangenknochen und ein ausgeprägtes Kinn definierten die markanten Züge seines Gesichts. Die dunkelblonden Haare waren weder kurz, noch lang, weder glatt, noch lockig ... und fielen ihm anbetungswürdig chaotisch in die Stirn. Kurzum: Er war wunderschön.
Doch obwohl mich sein Äußeres binnen eines Herzschlages fesselte und faszinierte, fielen mir am Rande meines Bewusstseins mehrere Dinge gleichzeitig auf, die mich in ihrer Gesamtheit stutzen ließen:

1. Er sah weder Lucy noch Adrian ähnlich.
2. Er bekam von unseren Mitschülern nicht mal annähernd dieselbe Aufmerksamkeit wie die beiden Rückkehrer vor ihm. 
3. Die anderen Mädchen, denen sein Aussehen anscheinend auch aufgefallen war und die ihn für einige Sekunden ebenso ungeniert angegafft hatten wie ich, schüttelten der Reihe nach ihre Köpfe, als wollten sie sein Bild vertreiben und sich zur Besinnung rufen. Eines nach dem anderen verschanzten sie sich hinter ihren Geschichtsbüchern.
4. Überhaupt sah niemand (außer mir selbst) ihn länger an.

Und ...

5. Er selbst sah auch niemanden an.

Dann bemerkte ich, was ihn am deutlichsten von Lucy und Adrian unterschied: Der Ausdruck seiner Augen war nicht so offen und schon gar nicht fröhlich; er wirkte distanziert. Eventuell deutete ich das sogar zu wohlwollend, denn mit weniger Begeisterung hätte man auch leicht Arroganz in seinen Blick interpretieren können.
Kathys Bewegungen rissen mich aus meiner Verzückung. Eilig krakelte sie auf ihren Zettel:

Voilá! Noah Franklin, Lucys und Adrians Adoptivbruder

Adoptivbruder. Meine Augen glitten mehrfach über das Wort. Nun, das erklärte zumindest schon mal die fehlende Ähnlichkeit.
Ich versuchte, mein Nicken so belanglos wie möglich wirken zu lassen. Niemand sollte bemerken, wie sehr mich Noahs Ankunft aus der Bahn geworfen hatte. Ich konnte es ja selbst kaum begreifen.
Äußerlichkeiten … als ob ich jemals zuvor Wert auf Äußerlichkeiten gelegt hatte. 
Noah war inzwischen mit nur drei gleichermaßen entschlossen wie elegant wirkenden Schritten zum Lehrerpult gegangen, hatte einige Formulare vor Mr Sheppard abgelegt und wartete nun reglos auf dessen Unterschrift. Kein einziges Wort der Begrüßung kam über seine schönen Lippen.
Überhaupt war es plötzlich sehr ruhig im Klassenraum. 
Nicht einmal Mr Sheppard sagte etwas. Kein Hallo, keine Platzzuweisung, kein Tadel wegen der deutlichen Verspätung oder der erneuten Störung seines Unterrichts. Nichts dergleichen. 
Stumm nahm Noah die unterschriebenen Formulare wieder an sich und schritt mit starrem, nahezu ausdruckslosem Blick über den breiten Gang am Fenster. 
Hinter mir quietschten Stuhlbeine über den Fußboden. Das Geräusch wirkte so mächtig in der angespannten Stille, die Noah mit sich in den Raum gebracht hatte, dass sich sofort alle siebzehn Augenpaare auf den Lärmstifter richteten. Der ewig coole Roger, der allein an einem Tisch in der letzten Reihe gesessen hatte, räumte freiwillig seinen Platz und setzte sich zu Rebecca, der unbeliebtesten Streberin unserer Stufe. 
Irgendetwas stimmte hier nicht. Ganz und gar nicht.
Als wäre es das Selbstverständlichste der Welt, schritt Noah an sämtlichen Tischreihen vorbei und setzte sich auf den nun freien Stuhl. Niemand außer mir beobachtete, wie er Platz nahm. Alle anderen hatten ihre Köpfe bereits wieder abgewandt und die Nasen zurück in ihre Bücher gesteckt. 
Geräuschvoll zog Noah den Stuhl heran. Er war der Einzige, der allein saß. Was zum Teufel … ???

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