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WAS VOR DIR NOCH KEINER SAH

Leseprobe

1. Leo

„Passt schon!“

 

„Leonard Mendel, du kommst jetzt sofort runter!“

Oh, oh, Alarmstufe Rot. Feuerrot!

Vollständiger Vorname plus Familienname. Bedeutung: keinen weiteren Aufschub, sonst drohen unangenehme Konsequenzen.

Das anfängliche grasgrüne „Leo, kommst du? Wir müssen langsam los“ hatte sich zunächst in ein entschlosseneres „Leonard, es wird jetzt wirklich Zeit!“ gewandelt. Zitronengelb. Ein wenig angesäuert, aber immer noch harmlos. Doch bei Alarmstufe Rot war jede weitere Sekunde in meinem Zimmer ein Zeichen von Lebensmüdigkeit.

Mein brandneues Zimmer, das nach Farbe und dem frisch verlegten Parkettboden roch. Ich ließ meinen Blick durch den großen lichtdurchfluteten Raum gleiten. Das breite Bett, der dunkle Boden, die grau-grünen Wände, der Wandkleiderschrank. Es war wirklich toll geworden.

Obwohl wir erst seit drei Wochen hier lebten und sich immer noch einige Umzugskartons vor meinen Regalen türmten, fühlte ich mich hier schon wunderbar heimisch. Und ich war sehr erleichtert, meinem alten Zuhause entflohen zu sein.

Aber heute war der Tag, an dem sich alles wieder ändern könnte.

Unter einem tiefen Seufzer warf ich meinem Spiegelbild einen letzten prüfenden Blick zu, schlug von unten gegen den Schirm meiner dunkelblauen Baseballkappe – sodass sie mir im hohen Bogen vom Kopf flog – und tauschte sie erneut gegen die weiße, die ich zuvor schon viermal auf- und wieder abgesetzt hatte. Sie passte doch besser zu der dunklen Jeans und dem olivgrünen T-Shirt, das ich für diesen entscheidenden Morgen ausgewählt hatte.

Polternde Schritte hallten über den Flur; schon riss jemand meine Zimmertür auf. Nein, nicht jemand. Diese brachiale Energie brachte nur einer mit sich.

„Anton, verdammt! Was spricht eigentlich dagegen, das Schild an meiner Tür zu beachten und einfach mal anzuklopfen?“, fragte ich genervt und ließ den Blick an meinem Spiegelbild vorbei zu meinem älteren Bruder schweifen.

Groß und breitschultrig stand er im Türrahmen und musterte mich mürrisch. „Kannst du mir sagen, was du da machst, Leo? In zwanzig Minuten beginnt der Unterricht und Max weiß bis jetzt nicht mal, wo sein Klassenraum ist. Also tu mir einen Gefallen: Beende deine Modenschau und schwing die Hufe, Prinzessin!“ Damit drehte er sich wieder um und verschwand.

Ich atmete noch einmal tief durch, schulterte den bereitstehenden Rucksack, verließ mein Zimmer und trabte die Stufen der Holztreppe herab. Oh, verflixt, die Holztreppe!

„Leo, hatte ich nicht ausdrücklich gesagt, dass die Schuhe im neuen Haus hier unten bleiben, im Schuhschrank?“, begrüßte mich meine Mutter mit strenger Miene, bevor sich die gerade Linie ihres Mundes ein wenig entspannte und ihr Blick nachgiebiger wurde. „Komm jetzt, zieh dir was über, hier ist es morgens noch kühl. Und beeil dich, wir sind viel zu spät dran!“

Mein jüngerer Bruder Max versperrte die unterste Treppenstufe. In aller Seelenruhe saß er dort und band die Schnürsenkel seiner Sneakers. Ihn blaffte niemand an.

„Morgen“, begrüßte er mich und rutschte beiseite, ohne zu mir aufzuschauen.

„Morgen“, grüßte ich zurück.

„Hallo, Leo!“, rief unsere kleine Schwester und stürmte mir aus dem Wohnzimmer entgegen, gefolgt von unserem Vater. Die beiden Glücklichen liefen als einzige noch im Pyjama durchs Haus.

„Hi Crash!“ Ich beugte mich zu dem rosafarbenen Energiebündel hinab, damit sie mir ihren obligatorischen Guten-Morgen-Kuss auf die Wange drücken konnte. Clara, alias Crash, war das Nesthäkchen der Familie. Mit ihren fünf Jahren genoss sie die Vorzüge eines Vorschulbabys in vollen Zügen. Ihr Kindergarten begann erst in ein paar Tagen.

Nachdem sie ihre Arme um meinen Hals geschlungen und mich mit viel zu feuchten Lippen geknutscht hatte, sah Crash mich mit ihren großen hellblauen Augen an; die blonden Haare kräuselten sich wild und ungekämmt um das sommersprossige Gesicht. „Und, freust du dich schon sehr auf deine neue Schule?“, fragte sie voller Enthusiasmus.

„Ja, schon … irgendwie“, stammelte ich. „Aber weißt du, wenn man älter wird, ist das alles nicht mehr so aufregend.“

„Tss, neunmalkluges Gewäsch!“, raunte Anton unserem Vater zu. „Und das, nachdem er bis vor zwei Minuten noch vorm Spiegel stand und seine Garderobe durchprobiert hat wie ne alte Diva.“

Ich holte aus, um ihn zu boxen, doch er wich mir – wie immer – geschickt aus und mein Schlag ging ins Leere. Stattdessen packte Anton meinen Oberarm, zog mich soweit hinunter, dass mir die Kappe vom Kopf fiel und hobelte mit den Fingerknöcheln seiner geballten Faust schmerzhaft über meine Kopfhaut.

„Au! … Penner!“, rief ich, aber er lachte nur, zog mich wieder hoch und setzte mir die Kappe vollkommen schief auf mein nun hoffnungslos verstrubbeltes Haar. Schnell warf ich einen Blick in den Garderobenspiegel und ordnete notdürftig die wirrsten Strähnen.

Anton verdrehte die Augen. „Ach, komm schon, Leo, hab dich nicht so! Seit wann bist du so empfindlich?“

Als ob er das verstehen würde – mein großer Bruder. Er hatte die Kraft eines Bulldozers und das ungefähre Einfühlungsvermögen einer Brechstange. Für ihn stand an diesem Tag nichts, aber auch gar nichts auf dem Spiel. Ihn hatte man mit seiner offenen Art schon an seiner alten Schule von Beginn an gemocht – und so würde es auch hier wieder sein.

„Ich hole den Wagen!“, verkündete unsere Mutter. Beim Öffnen der Haustür blies mir kühle Luft entgegen und überzeugte mich schlagartig, doch nach meiner Jeansjacke zu greifen.

„Also, viel Spaß, Jungs!“, rief unser Vater, bevor er Anton am Ärmel seines Shirts zurückhielt und wartete, bis Max außer Hörweite war. „Ihr beide werft mir ein Auge auf euren Bruder, verstanden?“, wisperte er uns leise zu.

„Ehrensache!“, antwortete Anton für mich mit und schlug unserem Vater auf die Schulter. „Der Kurze packt das schon, Papa! Mach dir mal keine Sorgen.“ Er kniff die Augen ein wenig zusammen und musterte ihn missbilligend. „Sag mal, sind wir nicht deinetwegen hierhin gezogen? Neuer Job und so? Und warum lümmelst du dann als Einziger noch im Schlafanzug rum?“

Mein Vater lachte kurz auf und versetzte Anton einen Klaps gegen den Hinterkopf. Der grinste nur breit.

„Von hier aus ist mein Arbeitsweg viel kürzer“, erklärte unser Vater. „Um halb neun loszufahren reicht vollkommen. Und jetzt raus mit euch!“

„Ts!“, machte Anton wieder, wuschelte Crash im Rausgehen über den Lockenkopf, schubste mich unsanft über die Schwelle und warf die Haustür hinter uns zu.

Ich wusste nicht, ob ich den Gedanken mochte, fortan zusammen mit Anton zur Schule zu gehen.

 

In unserer alten Heimat Landsberg hatten Anton, Max und ich unterschiedliche Schulen besucht; meine Brüder die Realschule, ich das Gymnasium. Darum hatten sie auch nichts von meinem Chaos der letzten anderthalb Jahre mitbekommen.

Meine Familie wusste nur, dass sich meine schulischen Leistungen in dieser Zeit drastisch verschlechtert hatten. Unsere Eltern waren zu sehr mit dem Hausbau aus der Ferne beschäftigt gewesen, um die Veränderungen in meinem Leben zu bemerken. Und wer gibt vor seinen Eltern schon gerne freiwillig zu, plötzlich zum Klassenopfer mutiert zu sein.

Ich war ihnen dankbar, dass sie bei unserem Vorstellungsgespräch an dem neuen Gymnasium keinen großen Akt aus meiner Rückstufung gemacht hatten. Dann drehte ich eben eine Ehrenrunde, na und?

Anton und Max, die beide den Wechsel zum Gymnasium versuchen wollten, sollten ebenfalls ein Schuljahr wiederholen – Anton das zehnte, Max das sechste. Da fiel meine Rückstufung kaum noch ins Gewicht.

Tja, und heute war er da, der erste Schultag in der 9b des Gymnasiums im Siebengebirge.

Hier waren wir gelandet, in Königswinter am Rhein, am Rande des Siebengebirges, der Heimat unserer Eltern. Mein Vater hatte uns innerhalb der wenigen Wochen, die wir nun schon hier lebten, bereits auf fast alle sagenumwobenen Berge in der Nähe geschleppt. Und da gab es hier nicht gerade wenig von!

 

„Na, geht’s los?“, rief Frau Burger, unsere neue Nachbarin, von ihrem Balkon herab und zog mich damit aus meinen Gedanken. Freudig bellend sprang ihr kleiner Hund an dem Geländer auf und ab.

Natürlich war Anton am schnellsten mit seiner Antwort. „Ja, Schluss mit Faulenzen!“, rief er schulterzuckend. „Leider!“

„Na, dann wünsche ich euch viel Spaß, Jungs! Und macht euch keine Gedanken, der erste Schritt ist immer der schwerste. Heute Mittag seid ihr schon nicht mehr fremd.“

Was bestimmt ermutigend gemeint war, bewirkte genau das Gegenteil bei mir. Mein Magen zog sich schmerzhaft zusammen.

„Leo, geht es dir gut?“, erkundigte sich meine Mutter mit einem besorgten Blick in den Rückspiegel.

„Passt schon!“, antwortete ich und scheiterte kläglich bei dem Versuch, es lässig klingen zu lassen.

Anton, der schräg vor mir auf dem Beifahrersitz saß, drehte sich breit grinsend um und zog die Augenbrauen hoch. „Wenn man älter wird, ist das alles gar nicht mehr so aufregend“, äffte er mich nach und schlug mir dann lachend auf den Oberschenkel.

So, jetzt war ich mir sicher: Ich mochte die Vorstellung ganz und gar nicht, mit ihm auf dieselbe Schule zu gehen. Sogar Max wurde es in diesem Moment zu viel. „Anton, du nervst!“, bemerkte er ebenso präzise wie nüchtern.

Mein jüngster Bruder war sechs Wochen zu früh zur Welt gekommen. Seine Augen hatten unter der künstlichen Beatmung, die er damals erhalten hatte, gelitten – und so trug er bis heute eine starke Brille. Diese, zusammen mit seiner Leidenschaft für chemische Experimente, hatte ihm seinen unliebsamen Spitznamen eingehandelt.

„Ach, Professor, mach dich mal locker!“, schnaubte Anton. „Wir kommen in Klassen, in denen alle jünger sind als wir. Was soll da schon schiefgehen?“

Unsere Mutter schüttelte den Kopf und warf Anton einen missbilligenden Seitenblick zu. „Irgendwo zwischen euren Ansichten liegt die Wahrheit, Jungs. Du solltest nicht zu großspurig auftreten, Anton, aber ihr solltet euch auch nicht vor diesem Neuanfang fürchten, Leo.“ Wieder traf mich ihr Blick aus dem Rückspiegel. „Das wird schon!“, versicherte sie mir.

In diesem Moment piepte Otto, mein Smartphone.

„Das Teil solltet du allerdings abschalten“, erinnerte mich Max. Ich überging seinen Kommentar mit einem Brummen und rief die eingegangene Nachricht ab. Sie kam von Tina, meiner einzigen Freundin in Landsberg.

 

Keine Ahnung wie man so was schreibt, ohne dabei übertrieben sentimental rüberzukommen, aber ich wünsche dir einen schönen ersten Tag an deiner neuen Schule. Ich weiß, du hast die Hosen gestrichen voll, aber glaub mir, solche Idioten wie Torben und Co. kann es nicht noch mal geben. Ausgeschlossen! Ich hab im Gefühl, dass von jetzt an alles großartig wird.

Oh, jetzt hör ich mich doch an wie ein weinerliches Mädchen. Alter, rock das Ding, kapiert? J Tina

 

Schmunzelnd blickte ich auf das Display, bis es sich verdunkelte. Tina war die Einzige, die ich wirklich vermisste, wenn ich an unsere Zeit in Landsberg zurückdachte.

 

In einer Seitenstraße, direkt vor unserer neuen Schule, stoppte meine Mutter den Wagen. Der Hof war bereits voll mit Schülern, und aus allen Himmelsrichtungen kamen immer neue dazu.

„Soll ich vielleicht doch mitkommen?“, bot unsere Mutter an, da sich keiner von uns regte.

Wie auf Kommando setzte sich Anton in Bewegung und löste seinen Anschnallgurt. „Ja, klar, so weit kommt es noch“, befand er kopfschüttelnd. „Zu allererst holen wir gleich unsere Tickets ab und von morgen an fahren wir mit dem Bus, wie es sich gehört. Zumindest, bis ich meinen Führerschein habe.“

Den hatte ihm unser Vater für die Zeit nach dem Umzug versprochen, und seitdem ließ Anton keine Möglichkeit aus, mehr oder weniger dezent an dieses Versprechen zu erinnern. In diesem Fall … eher weniger. Er wackelte mit den Augenbrauen und schenkte unserer Mutter ein schiefes Grinsen, bevor er ausstieg, die Tür hinter sich zuwarf und mit großen Schritten auf den Schulhof zumarschierte.

Max und ich verließen das Auto deutlich zögerlicher und trabten Seite an Seite hinter Anton her. „Euer Schulhof scheint da oben zu sein“, sagte Max. Verhalten und ruhig nickte er in Richtung der Treppe, die auf die höhere Schulhofebene führte. Und richtig, dort wimmelte es nicht so vor Unterstufenschülern wie hier unten. Ich schluckte. „Sieht ganz so aus, ja. … Also dann!“

„Ich wünsche euch einen tollen ersten Tag, Jungs! Viel Spaß!“, rief unsere Mutter noch durch das heruntergekurbelte Seitenfenster und brauste im nächsten Moment schon auf und davon.

 

 

2. Marie

„Ich will ja auch nicht gehen …“

 

Ich ignorierte das Piepen meines Weckers schon zum dritten Mal. Diesen dämmrigen Zustand, in dem man nahe unter der Oberfläche schwamm und sich einfach treiben ließ, liebte ich. Nie kam ich Mama näher, als in diesen kostbaren Minuten. Gerade eben noch hatte sie mich auf ihrem Schoß gewiegt und mir liebe Worte ins Ohr geflüstert.

Doch jetzt presste sich ein anderer, viel kleinerer Körper an mich und zog mich zurück in die Realität. Aus diesem friedlichen Dämmerzustand zu erwachen erschien mir jedes Mal wieder wie von einer riesigen Welle überspült und ausgespuckt zu werden. Tausendmal hätte ich den Traum der Realität vorgezogen.

„Ich will nicht, dass du gehst, Marie“, drang es gedämpft unter der Bettdecke hervor. Ein Beinchen schlang sich über meine Unterschenkel, umklammerte mich.

Seufzend rieb ich mir die Augen. Mit der Schläfrigkeit lösten sich die letzten Überreste der Geborgenheit meines Traums auf. Traurig legte ich einen Arm um meine Bettdecke und drückte den kleinen Körper darunter fest an mich.

„Ich will ja auch nicht gehen, Lilly. Aber ich muss. Und schau, am ersten Tag nach den Ferien dauert der Unterricht nie sehr lange. Du spielst einfach ein bisschen und schon bin ich wieder da.“ Irgendwie tröstete dieses Versprechen auch mich.

Unsere Zweisamkeit wurde durch ein leises Klopfen gestört. „Marie? Süße, du musst aufstehen, wenn du nicht zu spät kommen willst“, wisperte Julia.

„Ja, ich bin wach. … Danke!“, antwortete ich hölzern. Es fühlte sich immer noch seltsam an, Süße von ihr genannt zu werden.

„Ah, okay! Dann bis gleich.“ Das Schlurfen ihrer Schritte entfernte sich. Egal ob im Sommer oder im Winter, Julia trug immer Plüschpantoffeln. Mama war stets barfuß gelaufen. „Das härtet ab.“

„Bist du wieder da, wenn es Mittagessen gibt?“, fragte die zarte Stimme an meiner Brust einen trägen Wimpernschlag später. Ich schlug die Bettdecke zurück und blickte im Halbdunkel meines Zimmers in die großen braunen Augen meiner kleinen Schwester.

„Na klar!“, versicherte ich ihr. „Und jetzt komm, lass uns aufstehen!“

Wie an jedem Morgen gingen wir gemeinsam ins Bad. Lilly saß stumm auf der Matte vor der Dusche, während das warme Wasser auf mich niederprasselte und ich meine Haare wusch. Sie versuchte mit dem Zeigefinger Bilder auf die beschlagenen Glaswände zu malen. Bis jetzt begriff sie nicht, warum es immer nur mir an der Innenseite der Dusche gelang. Es gab so viele Dinge, die sie noch nicht verstand. Der Tag, an dem Lilly die Zusammenhänge der Ereignisse erfassen würde, die uns aus unserem alten Leben gerissen hatten, war wohl der, vor dem ich mich am meisten fürchtete.

Ich erlaubte meiner kleinen Schwester mich zu föhnen und half ihr in die Hose, deren Knopf sie alleine nicht schließen konnte.

Eine Hose, die Mama ihr niemals gekauft hätte.

Nachdem ich ihre schwarzen Haare zu einem französischen Zopf geflochten und meine hellbraunen zu einem einfachen Pferdeschwanz hochgenommen hatte, kamen wir zu Lillys Lieblingspart unserer morgendlichen Routine: meinem Kleiderschrank. Lilly liebte es, mir mein Outfit für den Tag zusammenzustellen. Oft ging ich in den unmöglichsten Klamotten-Kombinationen aus dem Haus, nur um sie nicht vor den Kopf zu stoßen. Heute suchte sie mir eine Dreiviertel-Jeans und ein hautenges, lilafarbenes T-Shirt mit weißen Herzchen heraus, das eigentlich zu meinem alten Sommerpyjama gehörte. Und damit kam ich schon verdammt gut weg.

„So, Frühstück!“, sagte ich endlich und versuchte dabei ebenso fröhlich zu klingen wie Mama früher. Hand in Hand stiegen wir die breite Treppe hinab und steuerten auf den Esstisch im Wohnraum zu.

„Guten Morgen, ihr zwei!“, begrüßte uns Julia. Ich hasste es, dass ihre Fröhlichkeit im Gegensatz zu meiner so spielend leicht klang.

„Morgen“, brummte ich und setzte mich mit geneigtem Kopf neben Johannes.

„Na, fit für den ersten Schultag?“, fragte er und schob Simon den Teller mit dem kleingeschnittenen Obst zu.

Simon war sechs Jahre alt und litt am Down-Syndrom. Er lebte seit seiner Geburt hier und nannte Julia und Johannes Mama und Papa, ebenso wie ihre drei älteren Pflegekinder, die schon nicht mehr im Haus lebten. Für mich war das undenkbar.

„Ja, klar!“, antwortete ich und begann, Lillys Brot zu schmieren.

Julia stellte mir meinen Orangensaft hin, strich Lilly über den Kopf und nahm dann neben Simon Platz. „Soll ich dich runterfahren oder nimmst du den Bus, Marie?“

„Den Bus, wie immer, danke!“

„Ich dachte nur, weil ich ohnehin gleich mit Simon zum Arzt muss“, versuchte Julia es weiter. „Er hat doch heute seine große Untersuchung.“

Stolz wiegte Simon den Kopf hin und her. Der arme kleine Kerl wusste nicht, dass die große Untersuchung, von der Julia so scheinheilig sprach, auch eine große fette Impfung mit sich brachte.

„Nein, danke. Ich nehme den Bus“, beharrte ich, ohne zu ihr aufzublicken. Ich hasste es, wie brüsk meine Worte klangen und wie verbissen mein Kinn zuckte, sobald sich meine Lippen wieder schlossen.

„Okay“, sagte sie und rang sich nach einem kurzen Moment spürbarer Enttäuschung ein neues Lächeln ab. „Und du, Lilly? Was machst du mit Johannes, solange Simon und ich beim Arzt sind?“

„Malen“, entgegnete Lilly zögerlich. Es klang eher wie eine Frage.

„Oh, ausgerechnet Malen?“, maulte Johannes. „Es gibt nichts, was ich schlechter kann, Lilly-Maus.“

Meine Schwester lächelte bei ihrem Kosenamen, was Julia sofort zum Anlass nahm, sich quer über den Tisch zu ihr herüber zu beugen. „Glaub ihm kein Wort! Johannes malt ganz tolle Dackel“, wisperte sie verschwörerisch und Lilly blickte mit großen Augen zu ihr auf. „Ja, wirklich! Du musst ihn nur bitten ein Pony zu zeichnen, und schon malt er dir die weltschönsten Dackel. Probiere es mal aus!“

Julias Vorschlag entlockte Lilly ein Kichern.

Geräuschvoll schob ich meinen Stuhl über den Fliesenboden zurück. „Ich muss los!“, entfuhr es mir viel zu laut. Mein Orangensaft stand noch vollkommen unangetastet vor mir. Dennoch stürmte ich ohne ein weiteres Wort in den Hausflur.

Julia brauchte nur wenige verdutzte Sekunden, um sich zu fassen und mir zu folgen. „Habe ich etwas Falsches gesagt?“, erkundigte sie sich sanft.

„Nein, was denn?“ Mürrisch streifte ich mir meine Strickjacke über. Mein Zorn richtete sich längst schon wieder gegen mich selbst. Lilly erschien im Türrahmen zum Flur und verhinderte weitere Annäherungsversuche von Julia.

„Beim Mittagessen bist du wieder da“, erinnerte Lilly mich mit strenger Miene.

„Versprochen!“, erwiderte ich, ging vor ihr in die Hocke und schloss sie fest in die Arme.

„Ich wünsche dir einen ganz tollen ersten Schultag“, sagte Julia mit einem Lächeln, das zu schwach ausfiel, um ihre Augen – wie sonst immer – zum Strahlen zu bringen.

„Danke. Euch auch einen schönen Vormittag“, rang ich mir ab und wich ihrem Blick aus. Schnell hängte ich mir die Schultasche über die Schulter, streichelte Lilly noch einmal über die Wange und verließ dann das große Haus, das ich wohl nie als mein Zuhause würde bezeichnen können.

Auf den hundertfünfzig Metern zur Bushaltestelle schoss mir immer wieder ein Gedanke durch den Kopf: Wie wird es Lilly an diesem ersten Tag ohne mich gehen? Immerhin hatten wir die gesamten Sommerferien zusammen verbracht.

Aber sie hatte ja Johannes bei sich. Lilly liebte ihn … und Julia vermutlich auch. Verständlich, wenn man bedachte, wie viel Zeit ihr die beiden widmeten. Sie lasen ihr vor, bauten stundenlang Miniaturlandschaften und Zoos auf dem Fußboden auf und erfüllten Lilly nahezu jeden Wunsch – froh darüber, wenn sie sich ihnen zumindest ab und zu öffnete. Viel zu lange war sie vollkommen still geblieben. Nein, unsere Pflegeeltern verdienten mein abweisendes Verhalten nicht. Sie hatten vom ersten Augenblick an alles für uns getan. Beschämt dachte ich an den betrübten Blick zurück, den Julia mir bei meinem Abschied zugeworfen hatte. Erst jetzt – allein mit mir selbst, in der Ruhe dieses Spätsommermorgens – nahm ich mir wohl zum hundertsten Mal vor, ihr und Johannes gegenüber offener und … ja, einfach ein wenig dankbarer zu sein.

Gedankenverloren lehnte ich mich gegen das Gitter neben der Bushaltestelle und scharrte mit dem Fuß einige Kieselsteine auf dem Asphalt zusammen. Mit einem Mal, als hätte mein Fuß einen eigenen Willen, stellte er sich auf die Zehenspitzen. Für den Moment wie erstarrt, blickte ich auf meine Chucks herab. Nicht gerade das geeignete Schuhwerk. Aber egal. Ich hielt mich an einem der Gitterstäbe fest und reckte mich vorsichtig auf die Zehen beider Füße hoch, bis ich auf den äußersten Spitzen stand. Es tat weh – aber ich hielt mich, auch als ich den Stab schließlich losließ. Ein Lächeln zupfte an meinen Mundwinkeln. Eines, das tatsächlich auch etwas in mir hob. Ein ehrliches Lächeln.

Oh Mann, wie lange habe ich schon nicht mehr getanzt?!

Mit zwei, drei vorsichtigen Tippelschritten dehnte sich ein waschechtes Grinsen über mein Gesicht und ließ meine Wangen schnell stärker schmerzen als meine Zehen.

Und wie lange habe ich nicht mehr richtig gelacht?

„Hey, was wird das denn?“, rief eine derbe Stimme hinter mir. Im Schock entgleiste mir meine Körperspannung und ich plumpste zurück auf meine Füße.

Alex!

Ihn und die anderen hatte ich während der vergangenen sechs Wochen erfolgreich verdrängt.

„Machst du jetzt einen auf Primaballerina?“, rief Alex mir aus einer Distanz von bestimmt siebzig Metern zu.

Na super. Warum ließen sie mich nicht einfach in Ruhe? Alex, Judith und Kai nutzten jede Gelegenheit, um mich zu traktieren. Dabei kannten sie mich überhaupt nicht. Sie wussten rein gar nichts über mich, außer meinen Namen und dass wir zufällig in dieselbe Klasse gingen. Bereits ganz am Anfang hatten sie mir einen Stempel aufgedrückt und seitdem prangte das unsichtbare Wort Opfer! auf meiner Stirn. Zunächst hatten sie mich einfach links liegen gelassen, später bewusst ausgeschlossen, dann gemobbt. Aber an mir sollten sie sich ruhig die Zähne ausbeißen. Sämtliche ihrer Gemeinheiten prallten an mir ab. Zumindest redete ich mir das immer wieder ein.

Und so ignorierte ich Alex auch diesen Morgen wieder. Das hinderte ihn natürlich nicht daran, seine dämlichen Sprüche zu reißen. Bald schon kam Judith dazu. Das rothaarige Biest lachte laut über Alex’ Imitation meiner kleinen Balanceübung und zögerte nicht, gemeinsam mit ihm über mich herzuziehen.

Ich öffnete meine Tasche und kramte nach meinem iPod, pfropfte mir die Kopfhörer in die Ohren und drehte Adeles Rolling in the deep auf volle Lautstärke. Als der Bus endlich kam, schob ich mich vor den beiden Vollpfosten hinein, um ihnen nicht noch einmal die Möglichkeit zu geben, mir im schmalen Durchgang des Busses Rucksäcke zwischen die Füße zu schieben. Das hatten sie vor ein paar Monaten schon mal gemacht und ich war der Länge nach hingefallen.

Ich hangelte mich bis in die letzte Reihe vor und rutschte auf den Fensterplatz. Mit dem kühlen Glas an meiner Schläfe und Someone like you in meinen Ohren, blieb es für die wenigen Minuten Fahrtzeit friedlich. Ich vermisste die Musik. Ich vermisste das Ballett. Aber sobald mich diese Gedanken durchzuckten, erinnerte ich mich daran, dass es für diese Art von Träumerei keinen Platz mehr in meinem Leben gab. Jetzt zählte nur noch Lilly. Und wegen Lilly zählte auch die Schule. Möglichst schnell einen möglichst guten Abschluss hinzukriegen, das war das nächste große Ziel. Um dann eine Ausbildung zu beginnen – am besten bei einer Bank, denn dort verdiente man schon während der Ausbildung gut genug, um endlich auf eigenen Beinen stehen zu können. Mit Lilly. Meine angeborene Dickköpfigkeit, die Mama immer wieder kritisiert hatte, würde ich nutzen, um schnell selbstständig und unabhängig zu werden. Ich durfte mir nur keinen Blick nach rechts oder links erlauben.

Der Schulbus bog in den hufeisenförmigen Busbahnhof ein. Die Türen öffneten sich mit einem zischenden Geräusch. Ich ließ allen anderen den Vortritt und wartete auch dann noch für einige Sekunden mit dem Aussteigen. Als mich der Busfahrer mit seinem Worauf-wartest-du-noch-Blick im Rückspiegel ins Visier nahm, erhob ich mich und schulterte meine leichte Hängetasche. Zeit für neue Bücher!

Ich schloss kurz die Augen und atmete noch einmal tief durch. Dann trat ich mit einem großen, entschlossenen Schritt aus dem Bus.

Neunte Klasse! Nur noch zwei Jahre! Das schaffst du!

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