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MILCHKAFFEE

Leseprobe

Frühjahr 2017

 

Die Zirpen der Zikaden klingt klagend an solch schwülen Frühlingsabenden wie diesem, an denen die Luft dermaßen schwer über den Köpfen aller Lebewesen hängt, dass man die Abkühlung eines kräftigen Gewitters förmlich herbeisehnt.

Beinahe hätte mich das monotone Surren der kleinen Insekten hier, über meinem Buch, einnicken lassen. Erst in letzter Sekunde – unmittelbar, bevor mich der Schlaf packt und in seine verlockenden Tiefen hinabzieht – schrecke ich auf. Etwa sechzig, siebzig Meter entfernt von meinem Rückzugsort auf der hinteren Veranda, ist ein heftiges Gezanke im Gange.

„Ich werde dich mit dem Kopf voran in den Fluss schubsen“, droht Jakob, mein zweitjüngster Urenkel seinem noch jüngeren Bruder Michael.

„Ich habe es nicht extra gemacht. Der Flügel von deinem doofen Flieger ist einfach so abgebrochen. Das war doch nicht meine Schuld!“, beteuert der Kleine so laut, dass nun das halbe Dorf von seiner vermeintlichen Unschuld wissen dürfte.

Ich kneife die Augen zusammen, um die Streithähne besser erkennen zu können. Meine Sehfähigkeit funktioniert längst nicht mehr so gut wie mein Gehör. Wie dankbar ich doch bin, dass es nicht andersherum ist. Die Laute dieser Welt waren mir schon immer ein Wunder – besonders die leisen, unscheinbaren –, während ich es oft nicht schaffte, meine Augen schnell genug von all dem Leid abzuwenden, das mir über die vielen Jahre meines Lebens begegnete.

Das Gerangel meiner Urenkel ist im wahrsten Sinne des Wortes Kinderkram dagegen. Ich mag die beiden zwar kaum erkennen, während sie wie verschwommene Farbblitze am äußersten Rand meines visuellen Wahrnehmungsfeldes hin und her flitzen, aber ich weiß auch so genau, was geschehen ist und dass keine ernstzunehmende Gefahr droht. All seinen wütenden Ankündigungen zum Trotz, wird Jakob den Winzling auch dieses Mal nicht im Fluss ertränken, und Michael wird zum Dank dafür auch das nächste Spielzeug seines großen Bruders zerstören und anschließend lautstark krakeelen, er habe nichts damit zu tun.

Später, in zehn bis fünfzehn Jahren etwa, werden sie dann nebeneinander sitzen, jeder ein Bier in der Hand, und sich über ihre guten alten Kindheitstage austauschen, nach denen sie sich für den Rest ihres Lebens zurücksehnen werden. So, wie es unter Brüdern sein soll.

Als der Kleine hilfesuchend auf mich zustürmt, schließe ich schützend meine Arme um ihn und gewähre ihm dort so lange Asyl, bis Jakobs Blut nicht mehr gar so arg brodelt. Dann sehe ich mir den gebrochenen Flügel des Modellfliegers an und verspreche, ihn zu reparieren. Wie ich das mit meinen schlechten Augen und den stets leicht zittrigen Fingern hinkriegen soll, stellen die beiden gnädigerweise nicht in Frage. Und meine Schwiegertochter – der gütige Engel, der sie ist – deckt meine zunehmenden Unzulänglichkeiten, indem sie mir die delikaten Arbeiten abnimmt und mich anschließend dennoch den Helden spielen lässt, wenn ich den Jungs ihre reparierten Spielzeuge überreichen darf.

Bald schon haben sich die jungen Gemüter wieder beruhigt und die Knaben brausen in einem neuen Spiel auf und davon. Rennen über das weite Grün, das unser Haus umgibt, bis sie wieder zu undefinierbaren Farbtupfern mutieren und kurz darauf vollends von der milchigen Landschaft verschluckt werden. Nun höre ich nur noch ihr Lachen. Eine nette Abwechslung.

Zufrieden lehne ich mich auf meiner Bank zurück und inhaliere den Duft des Frühlings. Als Kind war mir diese Jahreszeit stets die liebste. Sie bedeutete viel Arbeit aber auch ebenso viel Freude, und irgendwie schürte sie in jedem Jahr eine undefinierbare Euphorie in mir. Ja, immer dann, wenn sich Knospen öffneten, wenn neue Tiere geboren wurden und aus Samen winzige Pflanzen keimten, bekam ich schon als Junge eine Ahnung davon, wie großartig dieses Leben sein konnte. Natürlich kam erst mit zunehmendem Alter auch ein gewisser Respekt für diese wiederkehrenden Wunder hinzu. Später dann eine gewisse Unruhe, fast sogar eine Art Furcht, und letztlich – heute – die Ergebenheit.

Wie lange ich noch Zeuge dieses ewigen Kreislaufs der Jahreszeiten werden darf, weiß ich nicht. Fest steht, dass entweder dieser oder einer der nächsten auch mein letzter Frühling sein wird. Manchmal frage ich mich, ob es wohl ein gutes Zeichen ist, dass diese tiefe innere Ruhe, die der Duft von saftigem Gras und wilden Kirschblüten mittlerweile in mir auslöst, die langjährige Sorge abgelöst hat.

Ich weiß es nicht. Aber dieser Gedanke führt mich zurück zu meinem Buch. Denn es gibt noch eine letzte Aufgabe, die ich wie eine Last auf meinen alten Schultern spüre. Obwohl, nein, das ist nicht richtig. Nicht wie eine Last, das war es nie. Es ist eher … ein kameradschaftliches Klopfen, begleitet von einem sanft geflüsterten „Tu es, Junge!“.

Ich überlese die letzte Zeile noch einmal, positioniere meine viel zu steifen Finger über den Tasten meiner alten Schreibmaschine und versuche angestrengt, meinen roten Faden wiederzufinden. Es gab Zeiten, in denen mir das um einiges leichter fiel. Doch jetzt ist es so, wie meine Mutter schon früher zu sagen pflegte: „Mit dem Alter wird manch einem selbst das Denken zu viel.“

Meine Mutter war eine weise Frau aber … nun, ich werde mir diese Trägheit nicht gönnen, so einfach ist das. Nicht, bis dieses Buch, von dem ich immer so spreche, als läge es bereits fertig gebunden vor mir, auch wirklich vollständig geschrieben ist.

 

Meine Enkelin Anna unterbricht meinen frisch aufgenommenen Gedankenzug wieder, kaum dass ich ein paar Worte getippt habe.

Ich höre ihre Schritte, die hastig über die Holztreppe hinabklappern. Sofort – mit einer Vorahnung, die eher schon einer Gewissheit gleicht – stellen sich die Härchen an meinen Unterarmen auf.

Sophie!, durchfährt es mich, unmittelbar bevor Anna die letzte Hoffnung auf einen Irrtum beiseite wischt. „Opa, komm schnell! Oma ist wieder …“

Ich erhebe mich mit einem tiefen Seufzer, ignoriere den scharfen Schmerz, der mein linkes Bein durchzuckt, und wende mich dem hübschen Mädchen zu. Anna ähnelt dieser Großmutter, um die sie sich so sorgt, wie kein anderes unserer Enkelkinder. Sie ist sechzehn Jahre alt, temperamentvoll aber auch sanftmütig … und bildhübsch. Nur im Moment ist ihr Gesicht zu blass und die Augen sind ein wenig zu groß. Sophies Anfälle ängstigen das Mädchen jedes Mal.

„Schon gut, mein Kind“, sage ich und tätschele ihre Wange. Anna reicht mir meinen Gehstock und begleitet mich bis zur Treppe. „Möchtest du dieses Mal mitkommen?“, frage ich zögerlich. Zu meinem großen Erstaunen nickt sie, wenn auch mit schlecht kaschierter Unsicherheit in den Augen. Nun, die Tapferkeit liegt in unserer Familie.

Langsam humple ich voran. Die hölzernen Stufen ächzen unter meinem Gewicht. Als wir den oberen Korridor erreichen, überholt mich Anna und öffnet die Tür, hinter der uns ihre Großmutter erwartet.

Der Raum ist verdunkelt; Sophie hatte sich zurückgezogen, um wie an jedem Nachmittag ein Nickerchen zu halten. Seit gut zweieinhalb Jahren mehren sich die Tage, an denen ihre Ruhepause gestört wird, ehe sie so recht begonnen hat. Eine Feststellung, die mir Sorge bereitet und mich antreibt, die Arbeiten zu meinem Buch schnellstmöglich zu beenden. Doch momentan muss das warten. Weil Sophie mich jetzt braucht.

Nur ein Blick auf die Frau, die zusammengekauert wie ein verängstigtes Kind in dem Schaukelstuhl am Fußende ihres Bettes sitzt und wirr vor sich hinmurmelt, bestätigt mir meine Vermutung.

Oh ja, sie braucht mich dringend!

Ihre Augen starren ins Leere. Die Worte fließen ohne jeden Zusammenhang, monoton und scheinbar endlos über ihre Lippen. Beinahe mechanisch. Nur, dass keine Maschine der Welt mit dem Tempo, das sich in ihrem Kopf vollzieht, mithalten könnte. „Dreizehnter, Zimt, Alfred, der Nussknacker, wenn ich nur wüsste, wie …“ Ein nervöses Kichern.

Anna wirft mir einen hilfesuchenden Blick zu, den ich mit einem hoffentlich beruhigenden Lächeln erwidere. Es gerät wohl ganz gut, denn das Mädchen scheint mir meine eigene Unsicherheit nicht anzumerken. Die Körperhaltung meiner Enkelin entspannt sich ein wenig; ich reiche ihr meinen Gehstock.

„Was … redet sie da nur immer, Opa?“, fragt sie leise. Ich enthalte mich der Belehrung, dass Anna gar nicht so ruhig sprechen müsste. Ihre Großmutter nimmt uns in ihrem derzeitigen Zustand ohnehin nicht wahr.

„Es sind Fetzen dessen, was ihr im Kopf herumschwirrt“, erkläre ich stattdessen und nehme mühsam und umständlich auf der Bettkante an Sophies Seite Platz. „Dreizehnter, das kann Teil eines Datums sein. Zimt die Erinnerung an ein besonders eindrucksvolles Weihnachtsfest in der alten Heimat, und Alfred ein Spielkamerad aus Kindheitstagen, der Nussknacker ein Ballettstück, in dem sie vielleicht einmal solo getanzt hat. Aber ich weiß es nicht. Das sind nur Mutmaßungen“, gebe ich schulterzuckend zu und ergreife dann Sophies Hand. Behutsam löse ich die verkrampften Hände von den Armlehnen des Schaukelstuhls, Finger für Finger. Als mir das zunehmend gelingt, spüre ich, wie sehr sie beben.

„Liebes? … Liebes?“

Nach der vierten Ansprache dieser Art streift mich ihr Blick, geht jedoch durch mich hindurch. Mein Daumen zieht zärtliche Kreise auf ihrem Handrücken. Es wirkt nach wie vor unwirklich auf mich, dass ihre Haut fast ebenso faltig aussieht und sich lose über die Knöchel hin- und herschieben lässt, wie die meine. Ich sehe sie so oft noch als das kleine Mädchen vor mir, als das ich sie kennenlernte. Die nun grauen Haare hellblond, der mittlerweile verblasste Grünstich ihrer Augen noch frisch und lebendig. Sprühend vor Elan.

Dennoch kann ich dem Bild, das sie mir in diesem Moment bietet, nichts Trauriges abgewinnen. Es ist Teil dessen, was sie ausmacht … und schon immer ausgemacht hat. Teil ihres Wesens, das ich so sehr liebe und schätze. Denn Gott weiß, ohne Sophies besondere Eigenschaft, die ich immer als Gabe angesehen habe, so sehr sie mitunter auch einem Fluch glich, säßen wir beide nun nicht hier.

Wie jedes Mal in vergleichbaren Situationen, fällt mir auch jetzt wieder die erste Lektion ein, der erste Rat, den ich vor nahezu sieben Jahrzehnten in Bezug auf Sophies Besonderheit bekam. Er stammt aus dem Mund ihrer Mutter und lautet: „Hilf ihr zu vergessen, indem du sie gezielt erinnerst!“

Damals war ich noch sehr jung und kaum im Stande gewesen, die Worte vollumfänglich zu verstehen. Doch jetzt verleihen sie mir Kraft. Schnell picke ich ein Bild aus meiner Erinnerung.

„Sophie?“ Ich streichele ihre Wange, bis sie meinem Blick begegnet und ihn hält. Ihr Gemurmel reißt dabei nicht für eine Sekunde ab, doch och schenke ihm keine Beachtung.

„Engel, weißt du, woran ich immer wieder denke?“

Natürlich antwortet sie nicht, aber meine Frage ist ja auch rein rhetorischer Art. Ein Einstieg, mehr nicht.

„Ich werde niemals vergessen, wie du aussahst, als du im Krankenhaus auf diesem schmalen Podest aus Tischen standst und getanzt hast. Niemals. Du trugst ein helles Kleid. Gelb, mit kleinen Blümchen.“

Abrupt schnappt sie aus ihrer Starre.

„Beige. Rosen. Blaue Rosen. Tante Lena hatte es genäht. Am zweiten Sonntag im Februar, das war der 11. in diesem Jahr. Alles war gefroren. Ein totes Kaninchen. …“

Ich versuche, mein triumphierendes Lächeln zu unterdrücken. Es war klar, dass sie meine Fehler nicht so stehenlassen würde, doch sie pendelt noch viel zu stark hin und her. Also weiter! 

„Ja, richtig. Und die Musik, zu der du getanzt hast …“

„Nussknacker-Suite, Tschaikowski. Der Marsch der Zinnsoldaten“, erwidert sie prompt. Erleichtert atme ich durch. Heute macht sie es mir leicht, was keineswegs selbstverständlich ist. „Es war ein … Donnerstag, nicht wahr?“, frage ich schnell. Sophie schüttelt den Kopf. Ihr Blick wird bereits ein wenig klarer. „Freitag, der 4. Mai 1945. Die Sonne schien, aber es war nicht zu heiß. Am Abend setzte leichter Regen ein. Mutter und ich rannten den gesamten Weg nach Hause, damit wir nicht zu nass wurden.“

„Bleib im Krankenhaus! … Denk an das Lächeln!“, befehle ich leise, beinahe flüsternd. Ihr Mund klappt zu, der rechte Winkel zuckt. Ich weiß genau, was sie nun vor sich sieht. Den Jungen. Nur wenig älter als sie selbst, dem Tode näher als dem Leben. Damals. Seinem Zustand zum Trotz lächelnd.

Selig, ihretwegen. Immer nur ihretwegen.

Mit einem Mal hebt sich der Schleier vor Sophies Augen. Ihre Hände beben nicht länger, sie entspannen sich in meinem Griff. Es dauert etliche Sekunden, in denen sie tief und immer tiefer durchatmet. Dann hat sich die Panik, diese schreckliche Orientierungslosigkeit, endgültig gelegt.

„Danke“, wispert Sophie und lehnt ihre Stirn gegen meine. „Ich danke dir, mein Schatz.“

„Jederzeit.“ Ich umfasse ihren Nacken. Massiere behutsam über die Stelle, von der ich weiß, dass sie immer latent schmerzt. Als sich auch diese letzte Verspannung etwas gelöst hat, stehe ich auf und ziehe Sophie mit mir. Ich führe sie zum Bett, wo ich ihr die Schuhe von den Füßen streife, während sie sich zurücklegt, und bleibe an ihrer Seite, bis sie eingeschlafen ist.

Anna blende ich dabei aus, zumindest beinahe, denn unsere Enkeltochter verhält sich mucksmäuschenstill. Nur Sophies entschuldigender Blick, der lange auf Anna ruht, bevor sie die Augen endlich schließt, erinnert mich an die Anwesenheit des Mädchens.

 

„Weißt du schon, wann du fertig wirst, Opa?“, fragt Anna, als wir wieder auf der Veranda ankommen und sie sich neben mich auf die Bank setzt. Ihre Augen fixieren die blaue Mappe und das fast noch leere Blatt, das aus der alten Schreibmaschine ragt. „Ist es noch viel?“
Ich verstehe ihre Ungeduld, doch ich werde mich nicht drängen lassen. Nicht von außen, zumindest. Meine innere Uhr ist mir schon Metronom genug.

Und so lege ich einen Arm um meine jüngste Enkelin und ziehe sie an meine Seite. Drücke einen Kuss auf ihren Scheitel und schmunzele glücklich, weil sie sich so bereitwillig an meine Schulter schmiegt.

„Nun, es ist ein volles Leben, Kleines. Und was für eines!“


 

 

 

 

I.

– Erfurt, 13. April 1945 –

 

Erik wunderte sich, denn er hatte das Schlagen seines Herzens noch nie zuvor so stark und deutlich gespürt.

Der Junge erinnerte sich an die nette Frauenstimme, die ihm versprochen hatte, dass er erst wieder erwachen würde, wenn schon alles vorbei wäre. Aber konnte das denn wirklich sein? Hatten sie ihn tatsächlich schon operiert? Der grauhaarige Mann mit den vielen kleinen Schweißperlen auf der Stirn hatte ihm doch gerade erst diesen ekligen Lappen auf Mund und Nase gedrückt.

Erik versuchte die Augen zu öffnen, doch seine Lider blieben fest geschlossen. Der Junge war einfach zu schwach, und es ärgerte ihn, dass er nicht Herr über seinen Körper war. Aber dann war er auch wieder zu schwach, um richtig wütend darüber zu werden. Er glaubte zu seufzen, doch es klang eher wie ein Wimmern.

Ein großer rauer Daumen strich über Eriks Handrücken, vermutlich als Reaktion auf den kleinen Laut, den er von sich gegeben hatte.

Sofort schrak der Junge innerlich zusammen.

Ganz vorsichtig, mit nur einem Finger, den er mit aller Kraft beugte und wieder streckte – und der sich dennoch nur wenige Millimeter bewegte –, strich Erik über die Hand, die seine festhielt. Aber so sanft sein Tasten auch ausfallen mochte, es reichte aus, um die Schwielen und Risse zu erfühlen, die seine Hoffnung zusätzlich drückten. Denn sie passten einfach nicht, fühlten sich vollkommen fremd an.

Obwohl auch die Finger seiner Mutter rau und schwielig waren – die Arbeit in der Fabrik war hart –, war sich Erik nun ganz sicher, dass diese Hand nicht zu ihr gehörte. Sie war einfach … zu männlich.

Vati, durchfuhr es ihn. Und weil der kleine Erik seinen Vater schon so lange nicht mehr gesehen hatte, bemühte er sich umso heftiger, die Augen zu öffnen. Aber er kam einfach nicht gegen diese lähmende Trägheit an, die wie Blei auf ihm lag und ihn komplett beherrschte. Selbst das Überlegen fiel ihm unsagbar schwer, und Erik pendelte ständig zwischen halbwegs bewussten Gedanken und Traumsequenzen hin und her.

Auch die Geräusche, die ihn umgaben, klangen dumpf und viel zu weit entfernt. Sie bauschten sich auf und ebbten schon wieder ab, bevor Erik sie zu fassen bekam. Nur Fetzen, Bruchstücke nahm er wahr, mehr nicht. Das schwache Husten eines Mannes, die energische Stimme einer Frau. Der Junge fragte sich, warum er hörte, wie aufgebracht sie war und dennoch nicht verstehen konnte, was sie sagte.

Doch da sackte er auch schon wieder ein Stück tiefer, wurde noch schwerer. Erneut flackerte das Bild des Engels vor seinem geistigen Auge auf. Es war das Motiv des Ölgemäldes, das einst über seinem Bett gehangen hatte. In der alten Wohnung, die es nun nicht mehr gab. Nur sehr wenige Erinnerungsstücke hatten sie aus den Trümmern geborgen, noch viel weniger mitgenommen. Das geliebte Bild des Schutzengels, das Erik früher an jedem Abend vor dem Einschlafen betrachtet hatte, war zurückgeblieben.

Doch nun sah er seinen Engel wieder. Mit blasser Hand winkte die himmlische Gestalt den Jungen heran und forderte ihn auf, ihr zu folgen. In gleißendem Licht stehend, aus dem der Engel selbst geschaffen zu sein schien, lockte er Erik wortlos mit dem Versprechen auf Erlösung und immerwährende Wärme. Und das war wirklich sehr verheißungsvoll, denn dem Jungen war kalt. O Gott, ihm war so fürchterlich kalt.

Dennoch schüttelte Erik in seinem Traum heftig den Kopf und stützte voller Trotz die Hände in die Hüften. Nein, sein Platz war nicht im Himmel, zumindest noch nicht. Das konnte er seinen lieben Eltern nicht antun.

Das Lächeln des Engels war mild und nachgiebig. Schließlich nickte er dem Jungen zu und winkte wieder. Aber dieses Mal war es eine andere Geste, ein Abschied.

Der Engel ging … und Erik durfte bleiben. Weiterleben.

Die Kälte krabbelte weiter durch den kleinen Körper, von den Zehen bis zu den Haarwurzeln überrollte sie den Jungen nun, und dahinter lag – leise und noch kaum mehr als eine Ahnung – der Schmerz. Da lauerte er also doch.

Das grelle Licht verschmolz endgültig mit dem Engel, schien ihn regelrecht zu schlucken, und binnen Sekunden wurde das gütige vertraute Gesicht durch ein anderes, viel dunkleres ersetzt.

Der Kannibale!

Erik fuhr zusammen, schreckte ein wenig aus seinem benebelten Zustand, löste sich jedoch nicht genug, um endgültig zu erwachen.

Die Erinnerung an den fremden Soldaten ließ ihn erschaudern.

 

Ein paar Tage zuvor waren die Amerikaner auch in Erfurt einmarschiert; inzwischen hatte sich die Stadt ergeben. Heute hatte es erstmals keine neuen Kämpfe gegeben, und an den Fenstern hingen bereits weiße Handtücher, Schürzen, Bettlaken, Kissenbezüge, manchmal sogar nur Taschentücher, als Zeichen der Kapitulation. Langsam und voller Verunsicherung krochen die Menschen aus ihren Luftschutzkellern und Bunkern. Es gab keine Radioberichte, aber die Nachricht verbreitete sich auch von Mund zu Mund wie ein Lauffeuer, und obwohl es die Kunde einer enormen Niederlage war, spiegelten die Gesichter der Bürger dabei vor allem eines wider: tiefe Erleichterung.

Erik hatte das alles nicht so recht begriffen. Aber auf diese Art – lauschend, was die Erwachsenen so munkelten – war ihm schon bald zu Ohren gekommen, dass die Amerikaner die Wehrmachts- und Kriegsbestände an Lebensmitteln und Textilien zur kostenlosen Entnahme für die Erfurter Bevölkerung geöffnet und freigegeben hatten.

Der Junge hatte kaum glauben können, was er da hörte. Aber es stimmte wirklich, es musste einfach stimmen! Denn kaum war er den wachsamen Augen seiner Mutter entwischt und auf die nächstgrößere Straße gerannt, waren die Menschen mit vollen Armen an ihm vorbeigeeilt … und er war einfach immer weitergelaufen. Staunend, der Quelle entgegen, wo auch immer die sich befand. Zumindest schien Erik auf einem guten Weg zu sein, denn je weiter er lief, desto mehr Menschen strömten ihm entgegen.

Jeder trug soviel er nur konnte.

Lebensmittel wie Mehl und Zucker wurden zentnerweise gekarrt, Kisten voller Chlorodont-Zahnpasta geschleppt, Kleidung und Schuhe geschultert. Sogar Beutel mit Puddingpulver erkannte Erik, als ein Mann an ihm vorbeihastete.

Und so war es dem Jungen schlichtweg unmöglich gewesen, sich an die Weisungen der Mutter zu halten – so strikt die auch gewesen sein mochten –, zumal er doch nichts im Magen und das Schlaraffenland direkt vor Augen hatte. Vor über einem Monat waren die Brot-, Nährmittel- und Fettzuteilungen an die Bürger noch einmal erheblich gekürzt worden, und seitdem hatte Erik ständig Hunger. Auch an diesem Vormittag des 13. April 1945 knurrte sein Magen lautstark.

Also war er zunächst noch gegangen, dann gelaufen … und schließlich gerannt, wild entschlossen, sich seinen Teil des Kuchens auf eigene Faust zu sichern.

Freitag, der 13. hin oder her …

Mit Aberglauben hatte Erik ohnehin nichts am Hut, das war Weibersache. Und seine Schwestern und die Mutter würden schon noch sehen, was ihnen entgangen wäre, hätte Erik wirklich auf sie gehört. Später würde er seine Eroberungen vor ihnen ausbreiten und sich feiern lassen, so malte er es sich aus.

Und wer weiß, vielleicht wäre Erik wirklich der umjubelte Held seiner Familie geworden, wäre sein Vorhaben glücklicher ausgegangen. Doch das war es nicht.

Jetzt überlegte er, ob vielleicht doch etwas an diesem Aberglauben rund um den Unglückstag dran sein könnte?

Wieder seufzte er. Und wieder klang es eher wie ein Jammern.

Ach, wenn er doch auf seinem Weg nur nicht diesen anderen Jungen namens Paul getroffen hätte. Oder wenn Paul zumindest schon wieder weggewesen wäre, als Erik die Panzerfaust entdeckt hatte. Schließlich hatte Erik selbst sofort gewusst, dass sie noch scharf war. Und er hätte bestimmt auch keinen Beweis dafür gebraucht. Aber Paul, dieser Dummkopf, hatte ihn ja ein Großmaul genannt und ihm einfach nicht glauben wollen.

Und nun lag Erik hier – in irgendeinem Krankenhaus, verletzt und offenbar sogar schon operiert. Aber vor allem: Mit leeren Händen. Ohne ein einziges Paar Schuhe, verdammt noch mal!

Paul hingegen war … irgendwo. Und zwar mit Eriks wertvoller Fliegeruhr.

Ach, hätten sie doch wenigstens diesen dummen Tausch nicht gemacht. Denn die Uhr hatte fest um Eriks Handgelenk gelegen. Im Gegensatz zu den Lederstiefeln, die er für einen Moment neben sich abgestellt hatte, um Paul zu beweisen, dass die blöde Panzerfaust sehr wohl noch scharf war.

„Jaja, hätte, hätte! Wenn der Hund nicht geschissen hätt’, hätt’ er den Hasen noch gekriegt“, hörte Erik nun das ketzerische Krächzen seines Großvaters in seiner Erinnerung.

Richtig, dachte der Junge trotzig. Alles hätte nur ein ganz klein wenig anders laufen müssen …

Aber das war es nicht. Und so hatte er nun den Salat.

Nur wegen Paul, diesem Idioten. Und vermutlich auch ein bisschen, weil er selbst nicht auf seine Mutter gehört hatte. Das musste Erik sich wohl oder übel eingestehen.

Er fragte sich, ob sie sehr böse auf ihn wäre? Oh, bestimmt. Sicher würde sie ihn sogar verhauen, trotz seiner Verletzungen, denn das hatte er verdient.

Erik wusste, wie sehr sich die Mutter um ihn sorgte und bereute aufrichtig, ihr solchen Kummer bereitet zu haben. Besonders, weil ihr Bauch nun schon so rund war und man zu Frauen, in denen Winzlinge heranwuchsen, doch eigentlich besonders lieb sein musste.

Das neue Kind würde schon bald kommen. Ende Juni, Anfang Juli, hatten sie gesagt. Also nur noch ein paar Monate. Erik hoffte sehr auf einen Bruder, denn mit den drei Schwestern war nicht immer gut Kirschen essen.

Dennoch hatte der Junge seinem Vater vor dessen Abreise natürlich fest versprochen, sich gut um alle Mädels zu kümmern und artig zu sein. Schließlich war Erik nun schon neun Jahre alt, der Zweitälteste nach Christel.

„Jetzt bist du der Mann im Haus“, hörte er die Stimme seines Vaters und spürte in seiner Erinnerung noch einmal die große Hand auf seiner Schulter, den festen Druck.

Und jetzt hatte er seiner Mutter solchen Ärger gemacht.

 

Plötzlich fragte Erik sich, wie schwer seine Verletzungen überhaupt waren? Er strengte sich an, bündelte Kraft und Willen, und fuhr in Gedanken seinen kompletten Körper entlang – über die rechte Lende, den Oberschenkel, sein Knie. Hinab, bis zu den Zehen seines rechten Fußes. Er hielt die Luft an und kniff die Augen noch fester zusammen. Wenn er sie schon nicht öffnen konnte …

Langsam krümmte er seine Zehen. Es ging, Erik spürte jeden einzelnen. Erleichtert atmete er aus und versank dabei noch etwas tiefer in der durchgelegenen Matratze.

Seinen linken Daumen hingegen spürte er nicht. Die gesamte Hand war taub, nach wie vor.

So ein Mist!

Er hatte direkt gewusst, dass diese Verletzung die schlimmste war. Gleich nachdem der Rückstrahl Erik erwischt hatte, war ihm das schon klargewesen. Natürlich hatten ihm die Ohren zunächst noch so stark gesummt, dass er nicht einmal gewusst hatte, wo er lag und was überhaupt geschehen war. Vermutlich hätte er in diesen ersten Sekunden nicht einmal seinen Namen sagen können, hätte man ihn danach gefragt.

Aber der Anblick seiner Handverletzung hatte Erik so sehr geschockt, dass er dadurch wieder ein wenig zu sich gekommen war.

 

Auf dem hartem Boden liegend, hatte er an sich hinabgeblickt. Er sah seinen linken Daumen, der nur noch durch einen dünnen, fransigen Hautfetzen mit dem Rest der Hand verbunden war. In einer Art Reflex hatte er ihn an seinen Platz zurückgedrückt und angepresst, als hätte er ihn auf diese Weise wieder fixieren können. Doch sobald er losließ, klappte der Daumen leblos zurück und gab erneut den Blick auf Muskeln und Sehnen frei. Das Blut lief über seinen Unterarm. Einem endlosen Faden gleich, floss es auf das Kopfsteinpflaster unter ihm. Wie dunkel es war …

Der Junge sah weiter an sich hinab, erblickte seinen rechten Fuß, der seltsam verdreht in dem Strumpf lag und, als er das Bein anhob, darin hin und her baumelte wie das Gewicht an einem Pendel.

Gestank umgab ihn. Ein widerlicher Gestank nach verbranntem Fleisch. Mit jedem Atemzug sog Erik ihn ein. Sein Magen zog sich zusammen, und bitter schmeckender Speichel sammelte sich in seinem Mund. Von weit her drangen die Rufe einer Frau an sein Ohr. Auch ein Kleinkind weinte irgendwo, doch das hörte Erik kaum, so leise war das Geräusch hinter dem Rauschen und Fiepen in seinen Ohren.

Zwei Männer kamen, der eine alt, der andere ein Ausländer. Sie schienen ihn etwas zu fragen, aber der Junge antwortete nicht. Teilnahmslos sah er ihnen zu, wie sie mit bloßen Händen einen leeren Kohlesack zerrissen und sein Bein am Oberschenkel abbanden. Erst als die Männer ihn in eine uralte Kinderkarre gehoben hatten und einfach mit ihm losrannten, war wieder Leben in den Jungen gekommen.

„Warten Sie! Meine Stiefel! Ich muss die Lederstiefel für meinen Vater mitnehmen. Ich habe Onkel Ottos Fliegeruhr dafür eingetauscht!“, hatte Erik gebrüllt.

Aber niemand schenkte ihm Beachtung.

Im Laufschritt schoben ihn die Männer über das aufgeworfene Pflaster. Das Gestell quietschte und knarrte unter ihm, und Erik erwartete fast, dass es jeden Moment vollständig auseinanderbrechen würde. Schließlich war er schon viel zu groß für so eine klapprige Kleinkindkarre. Doch sie hielt ihn.

Bis sie unter einem bedrohlichen Ächzen zum Stillstand kam.

Denn auf einer großen Straßenkreuzung stand ein Panzer – breit und bedrohlich, wie ein Symbol der Macht und des Sieges. Ein Fahrzeug der Feinde, der Amerikaner.

Ein Riese stellte sich den Männern und dem verletzten Jungen in den Weg. Breitbeinig, in Uniform und mit einem Gewehr, dessen Griff er fest umklammerte.

Der Junge sah zu ihm auf und hielt zunächst noch das Sonnenlicht dafür verantwortlich, dass er den Riesen wie einen Scherenschnitt wahrnahm. Schwarz vor Weiß.

Doch dann beugte sich der Mann zu Erik hinab … und blieb genauso dunkel wie zuvor. Der Junge erstarrte.

Noch immer verspürte er weder Angst noch Schmerz, doch nun wusste er sicher, dass er sterben würde. Zwar nicht an seinen Verletzungen – zum Verbluten würde ihm vermutlich nicht einmal mehr Zeit bleiben – aber der finstere Blick des Schwarzen vor ihm ließ keinen Platz für Zweifel.

Ein Kannibale!

Die wulstigen Lippen fest aufeinandergepresst, schüttelte der Menschenfresser-Soldat den Kopf und murmelte Worte einer fremden Sprache. Er schien wütend zu sein. Dann richtete er sich wieder zu voller Größe auf und redete aufgebracht auf die beiden Männer ein.

Als die ihn nur ratlos und ängstlich ansahen, wandte er sich ab und rief etwas, das wie eine Frage klang.

„Kranke-Haus“, brüllte eine Männerstimme mit einem eigenartigen Akzent zurück. Das Gesicht zu dieser Stimme bekam der Junge nicht zu sehen. Es klang, als käme sie direkt aus dem Panzer. Der Kannibale wandte sich erneut den Männern zu.

„Where is the next Kranke-Haus?“, fragte er und seine Stimme klang dabei, als stecke sie tief in seiner Kehle fest. Er deutete auf einen LKW mit offener Ladefläche, der direkt neben dem feindlichen Panzer stand.

Die Männer neben Erik nickten.

Ruckartig hob der Fremde das schockgefrorene Kind aus der Karre und legte es über seine Schulter. In diesem Moment floss die erste Träne über Eriks Wange. Niemand bemerkte es, doch nun – ganz schlagartig – hatte er furchtbare Angst.

Der ältere der beiden Männer, die seine Verletzungen notdürftig versorgt hatten, hievte sich umständlich auf die Ladefläche des LKWs. Der Schwarze hob den Jungen so mühelos zu ihm empor, als wöge Erik nicht mehr als ein Kaninchen. Der Junge war erstaunt, als sich der uniformierte Kannibale hinter das Lenkrad setzte und selbst fuhr.

Können die Wilden denn so etwas?

Dies war zwar der erste Neger, den er in Natura sah, aber Erik fühlte sich dennoch nicht unwissend. Schließlich gab es in seinem Wilhelm Busch Buch einige Kannibalen, die genauso aussahen wie dieser Mann hier. Abgesehen von den Ringen, die ihre Nasen schmückten und den Knochen, die in ihren krausen Haaren verknotet waren. Obwohl … Vielleicht versteckte sich dieses Markenzeichen der Menschenfresser ja auch unter dem Helm des fremden Soldaten? 

Der ältere Mann hielt den Jungen fest in seinem Schoß, redete von Zeit zu Zeit beruhigend auf ihn ein und versuchte konzentriert, die harten Schläge, die durch die Fahrt auf der zerstörten Straße unter ihnen ausgelöst wurden, abzufangen. Mit ausladenden Gesten und lauten Rufen erklärte er dem Fremden den Weg. Immer wieder blitzten die dunklen Augen des noch dunkleren Mannes im Rückspiegel auf. Sein zorniger Blick jagte dem Jungen eine Gänsehaut über den Körper.

Als sie ankamen, wurde Erik wieder dem mürrischen Kannibalen überreicht.

Verrat, durchzuckte es ihn. Wieso überließ der Deutsche ihn dem Feind? Was war denn nur los an diesem verflixten Tag, an dem alles auf dem Kopf stand und rein gar nichts mehr richtig zu sein schien?

Der Fremde zögerte keine Sekunde. Er spurtete sofort los, wobei er mit der einen Hand den losen Fuß des Kindes festhielt.

Noch immer spürte der Knabe keinen Schmerz, auch wenn die riesige Hand des Mannes sofort blutüberströmt war. Es tropfte nur so an seinen Fingern hinab.

Der Junge sah über die breite Schulter zu dem LKW zurück, auf dessen Ladefläche der Alte stand und ihm mit sorgenvoller Miene nachblickte. Eine dunkelrote Spur markierte den Weg, den der Kannibale bereits hinter sich gebracht hatte. Doch Erik war von dem Anblick seines in den Pflasterfugen versickernden Blutes nicht schockiert. Zumindest nicht bewusst. Stumm verfolgte er die Spur bis zu ihrer Quelle. Dabei fiel ihm nur auf, dass die Handinnenfläche des Schwarzen an den wenigen nicht benetzten Stellen fast so hell war wie seine eigene.

Diese Entdeckung wiederum erinnerte den Jungen an seinen abgeklappten Daumen. Er versuchte ihn zu bewegen, doch die linke Hand war vollkommen taub.

Im Eingang des großen Hauses roch es nicht gut.

Gemischt mit dem rauchigen Gestank, der seiner Kleidung anhaftete, legte sich der beißende Geruch schwer über Eriks Magen … und ließ ihn sich zusammenziehen. Der Junge würgte und würgte, doch es kam nichts. Schade, dachte er. Vielleicht hätte das dem Menschenfresser ja den Appetit verdorben.

Langsam wurde das Kind müde. Obwohl ihn seine innere Stimme warnte, dass es verheerend sein könnte, jetzt das Bewusstsein zu verlieren, ergab sich der Junge zunehmend der wohltuenden Schwere. Sie umfing ihn immer stärker und presste ihn tiefer und tiefer in die Arme des Fremden.

Schließlich fielen Eriks Augen zu.

„Help!“, rief der riesige Mann, der ihn trug. „Help!“

Kurz darauf klackerten eilige Schritte über die Fliesen des kahlen Gangs. „O Gott, ein Kind!“, rief eine Frau. „Schnell!“, sagte eine andere, bereits dicht an Eriks Gesicht. Der Junge spürte ihren Atem und sog ihn gierig ein, weil er wesentlich angenehmer roch als die übrige Luft in diesem Gebäude.

Man legte ihn ab, und Erik spürte verwundert, dass er geschoben wurde. Ein Bett auf Rollen?

Im Hintergrund hörte er die Frauenstimmen, doch er vernahm nur noch vereinzelte Wortfetzen ihres hektischen Dialogs.

„Die Hand … unzählige Splitter … der Fuß … hoffentlich nicht zu spät … der Ami …“

Wo ist der Kannibale? Warum hat er mich in ein Krankenhaus gebracht? Will er mich denn gar nicht fressen?

Der Junge begann zu zittern. Er war so müde. Dennoch konnte er nicht schlafen, denn in seinem Kopf, der nach wie vor erstaunlich klar funktionierte, schwirrten hundert Fragen und Rätsel. Außerdem war ihm kalt. Ganz furchtbar kalt. Und der innere Frost wurde nur noch mächtiger, dehnte sich von Sekunde zu Sekunde weiter aus.

Die Brust des Schwarzen war hart gewesen, aber warm. Beinahe wünschte sich Erik nun in die starken Arme des Fremden zurück, da bemerkte er die schweren Schritte an seiner Seite. Eine tiefe kehlige Männerstimme murmelte Worte in einer Sprache, die er nicht verstand.

Währenddessen strich eine flinke Hand die Haare aus Eriks Stirn zurück, federleicht. Eine der Frauen. „Armer Kleiner!“, wisperte sie. Eine Tür wurde aufgestoßen, die Scharniere quietschten. Der widerliche Geruch verstärkte sich schlagartig, und dann erklang plötzlich die energische Stimme eines deutschen Mannes: „Zerschneiden Sie die Hose und den Strumpf, Schwester Henriette! Schnell, man hat ihm das Bein nicht kräftig genug abgebunden!“ Eriks Wange wurde getätschelt. „Junge! Sieh mich an, Junge!“, forderte der Mann. Der Knabe öffnete die Augen und wurde sofort geblendet. Eine kleine Lampe schwenkte direkt über seinem Gesicht hin und her. Das Licht zog lange Schlieren hinter sich her, die sich nur langsam auflösten und nichts weiter als tiefe Dunkelheit hinterließen.

„Beeilen Sie sich, er verliert zu viel Blut“, kommandierte der Mann. Als sein Gesicht aus der Dunkelheit auftauchte und Erik ihn endlich klar erkennen konnte, bemerkte er die Schweißperlen auf der faltigen Stirn. Sie glitzerten wie tausend kleine Diamanten. Der Junge hatte noch nie etwas Schöneres gesehen.

Wie Morgentau.

Silbrige Haarsträhnen fielen in das runzelige Gesicht des Mannes, als er sich ruckartig abwandte. Frauenfinger strichen die grauen Haare zurück und fingen sie mit einer Haube ein. Ein Mundschutz folgte. Für einen Moment waren nur noch blassblaue Augen sichtbar, bis die große Hand des Alten zurückkam … und mit ihr ein feuchter Lappen, den man offenbar in die Quelle des ekelerregenden Geruchs getunkt hatte. Er stank so beißend, dass Erik sofort schwindelig wurde, doch die Hand legte sich mitsamt des getränkten Tuches über Mund und Nase des Jungen. Eriks Augen weiteten sich in Panik. Eine Frau sprach dicht an seinem Ohr und streichelte ihm dabei beruhigend über den Kopf. „Wir operieren dich jetzt, mein Kleiner. Du wirst nichts spüren, versprochen. Und wenn du aufwachst, ist schon alles vorbei. Schlaf jetzt! … Schlaf!“

Das waren die letzten Worte, die Erik klar gehört hatte.

Dann wich die Kälte aus seinem Körper und er wurde in eine nie gekannte Tiefe gezogen. Angstfrei, warm, ohne Schmerzen.

Der Engel aus seinem alten Bild hatte ihn empfangen und kurz begleitet. Nur für wenige Sekunden, wie es Erik rückblickend vorkam. Doch jetzt, nach dem Abschied des Engels und dem Wirbelsturm der noch so frischen Erinnerungen, spürte das erwachende Kind erneut die geballte Kraft der Kälte. Sie klomm in ihm empor und überrollte ihn wie eine Welle. Erik zitterte. Seine Zähne schlugen heftig aufeinander. Ein weiteres Wimmern wurde laut, und diesmal begriff er sofort, dass es sein eigenes war.

Die rauen Finger, die bisher nahezu reglos seine Hand gehalten hatten, schlossen sich nun um seinen Unterarm und streichelten ihn sanft dort, wo man den Puls ertasten konnte. „It’s alright. Everything’s gonna be alright, you’ll see.“

Die Worte klangen weich und fest zugleich. Obwohl er sie nicht verstand, spürte Erik den Trost in der Stimme des Mannes. Dennoch durchfuhr ihn die Erkenntnis wie ein Stromschlag:

Der Kannibale! Er ist immer noch da!

Die plötzliche Panik setzte Kraftreserven frei; nun schossen die Augen des Jungen auf, als hätte man seine Lider an Schnüren hochgerissen. Erik blickte dem Soldaten direkt ins Gesicht. Den schien das selbst ein wenig zu erschrecken. Doch dann, nach nur wenigen Sekunden, in denen der Junge seinen Blick ohne zu blinzeln in das erstarrte Gesicht des Fremden gerichtet hatte, verzog sich dessen Mund. Die wulstigen Lippen teilten sich und gaben den Blick auf perfekte Zahnreihen preis. So weiße Zähne hatte Erik noch nie gesehen. Menschenfresser-Zähne, dachte er, bevor ihm klar wurde, dass der dunkelhäutige Mann neben ihm … ja, lächelte. Seine braunen Augen waren freundlich und sanft, Tränen schimmerten in den äußeren Winkeln. Der Griff seiner Hand war fest. „Thank God!“, murmelte er.

Und das klang wie ein kleines Stoßgebet.

In diesem Moment wusste der Junge, dass von dem Mann keine Gefahr ausging. Skeptisch, aber frei von Angst betrachtete er den Fremden genauer. Dafür kniff der Junge die Augen zusammen, denn seine Sicht war noch etwas getrübt und verschwommen, als läge ein nebliger Schleier vor seinem Gesicht. Auch das Zittern, das mittlerweile seinen gesamten Körper erfasst hatte, war nicht gerade hilfreich. Doch so angestrengt Erik seinen Blick auch fokussierte, er wurde nicht fündig.

Der Soldat hatte seinen Helm abgenommen. Das kurze Haar war tatsächlich extrem lockig, ganz so wie in Wilhelm Buschs Zeichnungen. Aber in diesem krausen Haar steckte …

„Kein Knochen“, murmelte Erik mit noch bleischwerer Zunge.

 

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