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NUR EINEN TRAUM ENTFERNT

Leseprobe

Erster Akt
– Februar 2010 bis Juni 2011 –

 

I.

Norwalk, Kalifornien, an einem trüben Februarmorgen 2010

»Das ist so peinlich. Eine echte Katastrophe«, wispert Dean mir zu. Ich rolle mit den Augen, denn wirklich, nichts war je offensichtlicher als das. Ich blicke auf das schiefe, in unzähligen Falten hängende Bühnenbild und die Schüler des Werkkurses, die dafür verantwortlich sind. Geschäftig wie die Ameisen geben sie ihr Bestes, den Missstand wieder zu beheben. Was für ein Chaos so ein paar ausgerissene Ösen in der Halterung eines acht Meter langen Stoffes doch verursachen können!

»Könnte ich meine Entscheidung rückgängig machen, würde ich keinen Moment zögern und sofort aussteigen«, raune ich meinem besten Freund zu.

Das Orchester spielt noch einmal das zuletzt geprobte Stück an, doch als sich einige von uns in Position begeben, gibt uns Ms Graham gewohnt gestenreich zu verstehen, dass nur der Einsatz der Oboe gefragt ist, gespielt von einem Mittelstufenschüler, dem offenbar jegliches Taktgefühl fehlt. Dean zieht eine gequälte Grimasse.

»Aussteigen klingt nach einem Plan, wenn du mich fragst. Die Graham würde das nicht einmal mitkriegen, so nervös und hektisch, wie die gerade ist.«

Lächelnd stupse ich mit meiner Schulter gegen Deans, was ausreicht, ihm seine übergroße Schirmmütze bis über die Augen in das schmale Gesicht rutschen zu lassen. Dean sieht so absolut albern aus, in diesem altmodischen Kostüm mit der Pumphose, die ihm bis knapp unter die Knie reicht und von Cord-Hosenträgern über dem Leinenhemd gehalten wird. Die Kniestrümpfe und verschlissenen Lederschuhe verleihen seiner schlaksigen Optik das gewisse Etwas … an Lächerlichkeit.

Ms Graham wirft mir böse Blicke zu, als ich ungehalten auflache. Schnell tauche ich hinter dem hochgewachsenen Mädchen mit der Ballonmütze vor mir ab. Wir alle sehen gleichermaßen dämlich aus, auch ich mit meinem auf alt gemachten Kleid, der pseudoverschmutzten Schürze und dem Kopftuch. Einfach schrecklich.

Dean duckt sich mit mir und gemeinsam kichern wir unterdrückt. »Gott, das wird so furchtbar, Lori«, seufzt er theatralisch, als wir uns wieder einigermaßen gefasst haben. »Kaum zu glauben, dass morgen um die Uhrzeit schon die Aufführung stattfinden soll. Wie um alles in der Welt soll das funktionieren?«

 

»Wir sind so weit«, lässt einer der Bühnenbildjungen verlauten.

»Gut, gut. Also, steigen wir wieder ein!«, ruft Ms Graham, die seit heute nicht nur das Schulorchester, sondern auch unseren Chor dirigiert und die Gesamtleitung des Stückes innehat. »Da Professor Mills leider noch in einer Prüfung steckt, überspringen wir seinen Auftritt als Fagin und kommen direkt zu Ihnen, Mr Sullivan.«

Wir befinden uns mitten in der Generalprobe zu Oliver Twist, und die kleine Gruppe der tanzenden Diebe, die für den Song des Gauners Fagin bereits auf der Bühne Stellung bezogen hatte, zieht murrend von dannen. Die armen Kids der unserer Schule angeschlossenen Junior High hatten schon seit einer geschlagenen Stunde auf ihren Einsatz gewartet. Frustriert schlurfen sie backstage.

Lennard Sullivan betritt derweil die Bühne, wuschelt einem der kleineren Jungen über den Kopf und schenkt ihm ein aufmunterndes Lächeln, als der überrascht zu ihm aufschaut. Ich verstehe die Verwunderung des Knirpses nur allzu gut, ist es doch das erste Mal überhaupt, dass ich Lennard Sullivan lächeln sehe. Er lacht eigentlich nie.

»Mensch, Lori, mach doch wenigstens den Mund zu, bevor dir der Sabber herausläuft«, ermahnt mich Dean lachend.

Ich strecke ihm die Zunge heraus.

»Was du nur an diesem Sullivan findest«, raunt er mir zu und bringt mich damit zum Schmunzeln. Man könnte glatt glauben er wäre eifersüchtig, wenn man ihn so hört. Aber dazu gibt es keinen Grund, Dean ist und bleibt mein bester Freund. Und das kann ich mit Bestimmtheit sagen, obwohl wir beide erst fünfzehn Jahre alt sind.

»Komme ich überhaupt von dieser Seite auf, oder doch von der anderen? Im Skript stand dazu nämlich nichts«, ruft Lennard und blinzelt gegen die Scheinwerfer an. Die Lichteinstellungen stimmen auch noch nicht. Sein Aufgang müsste eigentlich von kalten, dunklen Farben begleitet werden. Er spielt schließlich Bill Sykes, den finstersten Charakter aus Charles Dickens’ Werk.

Ich schirme meine Augen mit der Hand ab und blinzele in Richtung des Technikpults zu Quentin, Deans Zwillingsbruder, der sich gemeinsam mit einem anderen Schüler aus unserem Jahrgang bereiterklärt hat, das Licht zu steuern. Die beiden sind nur als Silhouetten wahrnehmbar, doch auch so erkenne ich anhand ihrer ausladenden Gesten, dass sie sich irgendwie nicht einig sind.

»Na toll, noch eine Baustelle«, wispere ich und höre im gleichen Moment, wie ungehalten Ms Graham auf Lennards Einwand reagiert. »Ich bitte Sie, Mr Sullivan, das ist doch jetzt wirklich egal! Auf Ihr Stichwort hin kommen Sie auf, basta!«

Lennard schüttelt nur den Kopf. Schon zählt Ms Graham laut den Takt an. Ich halte die Luft an. Man sollte es kaum glauben, aber obwohl wir für den Hintergrundgesang seines Liedes sorgen, habe ich Lennard noch nie singen gehört. Bislang probte unser Backgroundchor immer nur zu den Tonaufnahmen des Originalstücks oder einfach zu Mr Bakers Klavierspiel. Aber jetzt …

»… drei, vier!«

Fürchterlicher Lärm bricht los und lässt uns zusammenschrecken. Es dauert ein, zwei Takte lang, bis Ms Graham unwirsch mit ihrem Stab auf den Notenständer eindrischt und die unterschiedlichen Instrumente der Reihe nach wieder verstummen.

»Was war denn das?!«, brüllt sie mit hochrotem Kopf ein junges Mädchen in der ersten Reihe an. »Bei welchem Stück sind wir, Kim? Antworte, na los!«

Das Mädchen mit den langen dunklen Zöpfen und der Klarinette, die zu dünn ist, um ihr irgendeinen Schutz vor den Blicken sämtlicher Anwesenden zu bieten, versinkt beschämt auf ihren Stuhl.

»Ja, jetzt kriegst du den Mund nicht auf!«, ruft Ms Graham, nach wie vor aufgebracht. »Aber eben sah das noch ganz anders aus, als du die ganze Zeit geschwätzt hast, nicht wahr?! Ich hatte doch laut und deutlich gesagt, dass wir Fagins Lied überspringen müssen. Ist dir eigentlich klar, was es bedeutet, eine Generalprobe zu führen, junge Dame?«

»Puh, die Arme«, wispert Dean neben mir, den mitleidigen Blick auf das knallrote Gesicht des Mädchens geheftet.

»Jetzt machen Sie aber mal halblang, okay? Das ist doch lächerlich!«

Verblüfft über diese Worte, wenden wir alle unsere Köpfe in Richtung Lennard. Der blinzelt nach wie vor gegen die viel zu grellen Lichter an, die ihm durch das schöne Gesicht und die kupferbraunen Haare tanzen.

»Wie bitte?!«, fragt Ms Graham.

Für einen Moment streicht er sich die Locken aus der Stirn, doch dann lässt er sie zurückfallen und schiebt sein Kinn entschlossen nach vorne. »Ich sagte, das ist lächerlich! … Quentin, Jayden, tut mir einen Gefallen und stellt mal dieses fürchterliche Flackern ab, ja?«

Die beiden reagieren prompt und schieben ihre Regler auf schlichtes weiß-blaues Licht. Und mit einem Mal ist es vollkommen still in der großen Aula.

»Bei allem Respekt, Ms Graham, Ihre Nerven mögen blankliegen, in Ordnung. Aber warum fragen Sie ein zwölfjähriges Mädchen, ob es die Bedeutung einer Generalprobe kennt, wenn diese offenbar sogar Ihnen vollkommen fremd ist?«

Oh. Mein. Gott. Das hat er jetzt nicht wirklich gesagt …

Nicht nur ich ziehe scharf die Luft zwischen meinen Zähnen ein. Es ist, als würde die gesamte Halle den Atem anhalten.

»Wie bitte?!«, fragt Ms Graham noch einmal. Und dieses Mal klingt es schon beinahe drohend.

»Nein ernsthaft, Sie haben doch die gesamte Koordination des Musicals übernommen, richtig?«, fährt Lennard unbeirrt fort, ohne Ms Graham auch nur die geringste Chance zu lassen, auf seine ohnehin rhetorischen Fragen einzugehen. »Wie viele Gruppen kommen heute hier zum ersten Mal zusammen? Lassen Sie mich kurz nachzählen: Die Lichttechniker und Bühnenbauer, die Tanz-AG, der Chor, die Solisten, die Schauspielgruppe und Ihr Orchester, richtig?« Er zieht die Augenbrauen hoch, seine Mimik wirkt hämisch. »Ein lächerlicher Tag mit zwei Probedurchgängen soll ausreichen, um diese sieben Gruppen zusammenzuführen? Und dann lassen Sie Ihre Wut an einem kleinen Mädchen aus, wenn das nicht hinhaut? Wissen Sie denn, was es heißt, eine Generalprobe abzuhalten?«

Es dauert erstaunlich lange, bis Ms Graham aus ihrer Starre erwacht. »Lennard Sullivan, ich erlaube nicht, dass Sie so respektlos mit mir sprechen. Die morgige Aufführung wird meine achte an dieser Schule sein und …«

Lennard lacht humorlos, ja, beinahe verächtlich auf, und macht dabei einen entschlossenen Schritt in Richtung Bühnenrand. Ich schrecke innerlich zusammen, als er sich so abrupt bewegt, und klammere mich nervös an Deans Handgelenk fest.

»Was, und?«, ruft Lennard und wirft die Hände in die Luft. »Das ist doch keine Rechtfertigung! Wenn Ihnen trotz all dieser vorangegangenen Aufführungen immer noch nicht aufgefallen ist, dass die Qualität der Darbietungen von sieben Gruppen, von denen jede für sich wohlbemerkt ziemlich gut ist und hart gearbeitet hat, nur deshalb so schlecht ausfällt, weil Sie es nicht hinkriegen, den Gesamtablauf besser zu koordinieren, dann ist das doch ein Armutszeugnis!«

Ms Grahams Gesicht ist mittlerweile so rot wie eine überreife Tomate. »So etwas Unverschämtes habe ich in meiner gesamten Zeit als Lehrerin noch nicht erlebt. Ich bin die Regisseurin dieses Stücks …«

Lennard schüttelt den Kopf. »Mag ja sein, Ms Graham. Aber das hier ist kein Unterricht, es ist unser Freizeitvergnügen. Also sind Sie momentan nicht meine Lehrerin. Und ich bin nicht länger Ihr Bill Sykes. Ich schätze, Stephen Matthews wird für mich einspringen müssen, er kennt die Rolle in- und auswendig.«

Und damit springt Lennard von der Bühne, wirft dem verwunderten Stephen, der im Orchester sitzt und eine von vier Querflöten spielt, im Vorbeigehen seinen Umhang zu, und marschiert mit großen Schritten in Richtung Ausgang. Entschlossen reißt er die Tür auf, doch dann, während wir noch alle gebannt die Luft anhalten, dreht sich Lennard plötzlich noch einmal um und sieht uns an.

»Und falls einige von euch Lust haben, ein wirklich gutes Stück aufzuführen, dann kontaktiert mich auf Facebook.«

Es ist mit Sicherheit Zufall, aber plötzlich bleibt sein Blick – vielleicht zum ersten Mal überhaupt – an mir haften. Es wirkt, als würde er direkt zu mir sprechen.

»Raus mit Ihnen!«, brüllt Ms Graham. Mit beschwichtigend angehobenen Händen dreht er sich durch die geöffnete Tür und lässt sie laut hinter sich zufallen.

»Was zum Teufel war das?«, frage ich an Dean gewandt, als die beklemmende Stille wie auf ein stummes Signal hin plötzlich von ungläubigem Gemurmel und aufgeregtem Gebrabbel durchbrochen wird.

»Der so ziemlich coolste Auftritt, den ich auf dieser Bühne je gesehen habe«, wispert mein Freund zurück. Seine Miene wirkt beinahe ehrfürchtig. »Ich glaube, jetzt verstehe ich doch, was du an diesem Sullivan findest. Und abgesehen davon haben wir nun zumindest einen Plan, sollte diese verfluchte Aufführung morgen wirklich komplett schiefgehen.«

Ich sehe ihn eindringlich an, bis ich mir sicher bin, dass wir ein und denselben Gedanken teilen. Wir lächeln einander verschmitzt an. »Facebook«, sagen wir wie aus einem Mund, unmittelbar bevor Ms Grahams schrille Stimme wieder die Aula erfüllt.

***

Siebenundzwanzig Stunden und wenige Minuten später lasse ich mich in den Stuhl vor dem Sekretär in unserem Wohnzimmer plumpsen und fahre den Computer hoch. Bei der Eingabe meines Facebook-Kennwortes treffe ich nur jede dritte Taste richtig. Ich bebe nicht nur innerlich vor Wut und Enttäuschung. Es ist Samstagabend und meine Eltern und ich sind gerade von der Oliver Twist-Premiere nach Hause gekommen.

Meine Mom tritt hinter mich und streicht mir über den Kopf. »Auf dem gesamten Heimweg hast du kein Wort gesagt, Lori. Die Aufführung war doch eigentlich ganz nett.«

Empört schaue ich zu ihr auf und blicke sekundenlang in ihre dunklen, ahnungslosen Knopfaugen, bevor ich ein verächtliches Prusten ausstoße, mich wieder dem Bildschirm zuwende und mir jede andere Art von Antwort verkneife.

Ganz nett? Es war … ein absolutes Desaster.

Und der Zorn darüber kocht in meinen Adern. Dennoch beiße ich mir auf die Innenseiten meiner Wangen, um meine Mom nicht anzumotzen. Nein, ich bin kein besonders aufmüpfiger Teenager. Vermutlich habe ich mit den extremen Trotzphasen in meiner Kindheit das Pensum an Frechheiten schon voll ausgeschöpft. Zumindest behaupten meine Eltern immer, ich hätte meine Pubertät bereits im Alter von drei bis acht Jahren durchlebt.

»Mamma, bitte. Gib mir nur ein paar Minuten, ja?«, presse ich auch dieses Mal so ruhig wie möglich hervor. Im nächsten Moment erscheint schon mein Dad im Rahmen der Küchentür und winkt meine Mom zu sich heran.

»Alessia, komm, der Hund muss noch raus. Lass uns zusammen gehen. Vielleicht kühlt Lori in der Zeit ja etwas ab.«

Ich liebe meinen Dad. Wirklich, ich liebe ihn so sehr. Er spürt immer, was ich brauche. Dankbar lächele ich ihm zu.

Meine Mutter wirft die Hände in die Luft und grummelt ein paar Brocken Italienisch vor sich hin, wie immer, wenn sie sich nur widerwillig der bedachten Art meines Vaters beugt.

Seitdem ich den Film My Big Fat Greek Wedding gesehen habe, vergleiche ich meine Eltern mit den beiden Hauptcharakteren. Denn auch wenn meine Mom keine griechischen, sondern italienische Wurzeln hat, sind die Parallelen zu der Frau im Film verblüffend. Das einzige, was meine Eltern gemeinsam haben, sind ihre tiefblauen Augen. Dementsprechend kann ich nicht sagen, ob ich diese nun von meinem Dad geerbt habe, dem aschblonden, hochgewachsenen Kalifornier, oder eher von meiner 1,57m kleinen quirligen Mom, die mitsamt ihrer italienischen Großfamilie erst im Alter von 13 Jahren in die USA kam.

Das verblüffende an meinen Eltern ist, dass sie all ihrer Unterschiede in Herkunft und Charakter zum Trotz dennoch wunderbar zusammen harmonieren und sich auch nach 20 Ehejahren noch sehr lieben.

Boogies freudiges Bellen ertönt, gefolgt von dem Rascheln der Jacken meiner Eltern. Dann, endlich, fällt die Haustür ins Schloss. Fast im selben Moment finde ich Lennard Sullivan. Sein Profilbild zeigt zwar lediglich eine im Sand liegende Sonnenbrille, aber aufgrund unserer gemeinsamen Facebookfreunde kann ich mir sicher sein, dass es der Lennard ist, den ich suche. Einige Chor- und Orchestermitglieder tummeln sich schon in seiner Freundesliste. Ebenso wie Quentin und Dean, mit denen ich verabredet hatte, dass wir sofort, wenn wir zu Hause ankommen, eine Freundschaftsanfrage an Lennard senden.

Eine Zeit lang lasse ich den Cursor über die entsprechende Schaltfläche gleiten, die zu drücken ich mich aber noch nicht traue. Stattdessen greife ich zu meinem Handy und wähle Deans Nummer. Es tutet nur ein Mal, doch statt Dean meldet sich Quentin: »Lori, tu es einfach!«, ruft er anstelle einer Begrüßung.

»Es ist gruselig, wie gut ihr mich kennt«, befinde ich und klicke vor lauter Schrecken wirklich auf den Button. »Hab’s getan. Und jetzt?« Zu meinem Entsetzen klinge ich fast ein wenig panisch.

»Abwarten!«, ruft Dean von etwas weiter entfernt. Offenbar ist das Handy laut gestellt. »Unsere Anfragen hat er sofort akzeptiert. Aber du kannst ihm auch vorher schon ein paar Zeilen in einer PN schreiben«, schlägt Quentin vor.

»Meint ihr wirklich?«

»Warum denn nicht?«, sagt Dean. »Grübele nicht so viel und schreib einfach. Er ist bestimmt um jeden froh, der sich für seine Idee interessiert.«

»Genau Lori, mach schon!«, feuert mich Quentin an.

Ich schließe die Augen und reibe mir über die Stirn. So unterschiedlich die Zwillinge in Optik und Wesen auch sein mögen, so einig sind sie sich für gewöhnlich. Trotzdem gerate ich ins Stocken. Denn will ich überhaupt mit Lennard sprechen? Klar, er sieht gut aus und so, aber er wirkt auch irgendwie ein bisschen … durchgeknallt. Ich meine, wer verscherzt es sich denn quasi auf der Zielgeraden zum Schulabschluss noch mit der alten Graham?

»Ich überlege es mir, Jungs, okay? Bis morgen.«

Dean seufzt und nimmt Quentin anscheinend das Handy ab, denn seine Stimme wird plötzlich deutlich lauter. »Kannst du fassen, dass wir uns das Ganze morgen noch einmal freiwillig antun? Unser Ruf ist nach dem heutigen Desaster ja schon bis in alle Ewigkeit ruiniert. Wir sollten es wie Lennard halten und die Show einfach boykottieren.«

»Bin dabei«, vermeldet Quentin. Ich schüttele nur den Kopf. »Ach was, das ziehen wir jetzt durch. Und dann schauen wir, ob wir in seiner Gruppe Schadensbegrenzung betreiben können, was unseren angeknacksten Ruf angeht. Also, schlaft gut.«

 

Es verstreichen noch einige Minuten, bevor ich mir endlich einen Ruck gebe und das Nachrichtenfeld unter Lennards Namen öffne. Zaghaft beginne ich zu tippen. Anfangs lösche ich jedes Wort mindestens drei Mal. Doch dann folge ich, genervt von mir selbst, dem Rat meines besten Freundes und schreibe einfach drauflos:

 

Lorena Dexter / 10:56 p.m.

Hallo Lennard,

ich habe keine Ahnung, ob du überhaupt weißt, wer ich bin, also stelle ich mich erst einmal kurz vor: Mein Name ist Lorena, ich singe im Chor und war (so peinlich es mir auch ist) heute Abend an der absolut grauenhaften Premiere von ’Oliver Twist’ beteiligt.

Du hattest vollkommen recht, und zwar mit allem, was du bei der Generalprobe gesagt hast. Nichts hat funktioniert. Der Chor hat viele Einsätze verhauen, weil wir überhaupt nicht an die Orchesterversionen der Lieder gewöhnt waren und weil Ms Grahams Art zu dirigieren komplett anders ist als Mr Bakers’, mit dem wir zuvor immer geprobt haben. Den Tanzgruppen ging es auch nicht besser …

Professor Mills hat Fagins Song natürlich toll gesungen, aber den Text musste er stellenweise von der Innenfläche seiner Hand ablesen. Es war so unsagbar peinlich!!!

Ach, und der arme Stephen war zwar schrecklich nervös, weil er wirklich kurzfristig für dich eingesprungen ist, aber er hat echt gut gespielt. Woher wusstest du, dass er das kann?

Ich wünschte wirklich, ich hätte den Mut gehabt, ebenfalls alles hinzuschmeißen. Aber so mutig bin ich nicht. Also werde ich mich morgen wohl noch einmal zu den anderen auf die Bühne stellen und hoffen, dass die Schmach zumindest schnell vorbei geht. Tja, und danach werde ich mich nie wieder für das Einstudieren eines Bühnenstücks einschreiben, außer vielleicht bei dir, denn du hast mich echt neugierig gemacht. Deshalb: Wenn es hierzu etwas Neues gibt, melde dich gerne.

 

Bis dann,

Lori  

 

II.

Norwalk, im Februar 2010

»Lori, ich brauche dich heute Nachmittag in der Eisdiele. Nur für zwei Stunden, von drei bis fünf, ja?«

»Ja, okay.« Enttäuscht sitze ich vor dem Computer. Seit meiner Nachricht an Lennard sind schon anderthalb Tage verstrichen und er hat mir immer noch nicht geantwortet, zumindest jedoch meine Freundschaftsanfrage akzeptiert.

 

Der Nachmittag vergeht sehr ruhig. Gerade mal eine Handvoll Gäste verirren sich an diesem Sonntag in unsere Eisdiele, was wohl dem Dauerregen geschuldet ist.

Vor lauter Langeweile knöpfe ich mir irgendwann das in die Wand eingelassene Glasregal vor, steige auf einen Hocker und wische jedes darauf stehende Glas, jede Schale und jede Flasche einzeln ab. Meine Mutter kommt, bereitet eine Waffel und zwei große Eisbecher vor und schenkt mir ein dankbares Lächeln, bevor sie ihre kleinen Kunstwerke mit der übertriebenen italienischen Herzlichkeit serviert, die unsere Gäste so sehr an ihr schätzen. Zu Hause gibt sie sich längst nicht so überschwänglich, aber diese Mentalität liegt offenbar dermaßen tief in ihren Wurzeln verankert, dass sie hier, auf ihrer ganz eigenen Bühne, einfach nicht anders kann.

Bühne …

Nur dieser kurze Gedankenblitz und schon erinnere ich mich wieder an all die Patzer der vergangenen beiden Abende, denn wirklich, die zweite Aufführung war fast noch schlimmer als die Premiere. Kopfschüttelnd greife ich nach einem neuen Glas und versuche die unliebsamen Bilder wortwörtlich wegzuwischen.

Die Eingangstür wird aufgedrückt, das kleine Glöckchen erklingt – und ich schiebe den seltsamen Schauder, der mich sofort durchrieselt, auf den kühlen Luftzug, der meine Beine streift. »Wir setzen uns schon mal, okay? Und du möchtest wirklich nur ein Eis auf die Hand?«, fragt eine Männerstimme hinter mir.

»Ja, ich komme gleich nach.«

Fünf kleine Worte. Mehr bedarf es nicht, meinen Kopf herumschnellen zu lassen und mich aus dem Gleichgewicht zu bringen. Der Hocker, auf dem ich stehe, gerät unter meiner abrupten, viel zu schwungvollen Bewegung bedrohlich ins Schwanken. Der Absprung gelingt mir gerade noch und nicht, ohne dass ich die Espressomaschine beinahe umreiße, als ich mich haltsuchend daran festklammere.

»Alles klar?«, fragt Lennard mit gerunzelter Stirn, als ich mich mit einem Ruck wieder in eine aufrechte Haltung bringe und ihm genau gegenüber stehe. Nur die Eistheke trennt uns.

»Ja, alles … bestens«, stammele ich mit hochrotem Kopf. Ein Blick zu meiner Mutter macht mir klar, dass sie meinen beinahe-Sturz nicht bemerkt hat. Sie befindet sich im Gespräch mit einem unserer ältesten Stammkunden, was erfahrungsgemäß dauern kann. Ich werde mich also selbst um unseren neuen Besuch kümmern müssen. »Eis?«, presse ich hervor und lasse es in meiner Aufregung nicht einmal wie eine Frage klingen.

Himmel, du benimmst dich wie eine Idiotin, Lori.

Er lässt seinen Blick über die Glastheke wandern und nickt bedächtig. »Offensichtlich, ja. Ne ganze Menge Eis.«

»Ich meine, willst du welches?«

Er sieht mich einfach nur an und antwortet dabei so lange nicht, dass sich das dumpfe Gefühl in mir breitmacht, etwas selten Dämliches gefragt zu haben. »Kannst du mir etwas empfehlen?«, fragt er endlich.

»Bist du eher der Obst- oder Creme-Typ?«

»Bitte was?« Nun grinst er. Ja, wirklich. Lennard Sullivan grinst mich an. Hektisch streiche ich mir eine Haarsträhne hinters Ohr. »Na, magst du lieber was Fruchtiges oder eher Schokolade, Vanille, Kaffee …«

»Ach so. Hm, also dann bin ich wohl eher ein Creme-Typ, denke ich.« Ich blicke verstohlen zu den beiden Erwachsenen, mit denen er gekommen ist und die inzwischen an einem der Tische an der Fensterfront Platz genommen haben. Sie beobachten uns stumm. Der Mann muss Lennards Vater sein, das erkenne ich sofort, denn er sieht aus wie eine ältere Version seines Sohnes. An der Frau (Lennards Mom?) fällt mir in der Kürze der Zeit nur auf, wie blass und eingefallen ihr schmales Gesicht wirkt, was durch ihr Kopftuch noch betont wird.

Oh. Ist sie etwa …?

Lennard blinzelt kurz über seine Schulter und folgt meinem Blick. Jeglicher Ansatz eines Lächelns ist verschwunden. »Also, was empfiehlst du?«

»Ähm, unser Stracciatella-Eis hat im letzten Jahr eine Auszeichnung gewonnen«, erwidere ich steif und deute zu der eingerahmten Urkunde über der Theke.

»Dann das. Mittelgroß und in der Waffel, bitte.«

Erleichtert darüber, meinen Kopf senken zu dürfen, beuge ich mich tief über das entsprechende Fach.

»Ich habe deine Nachricht bekommen«, sagt Lennard. Ruckartig richte ich mich wieder auf. »Ja?«

»Ja. Zusammen mit dreiundzwanzig anderen.«

»Oh.«

Er nickt. »Ich war echt baff, ja. Werde heute Abend eine Rundmail schreiben, wie es nun weitergeht.«

»Okay.« Ich reiche ihm sein Eis über die Theke.

»Danke. Mein Vater bezahlt dann später, okay?«

»Klar. Ich komme sofort und nehme die weiteren Bestellungen auf.«

Er nickt mir noch einmal kurz zu, dann wendet er sich ab und geht zu seinen Eltern. Doch dann steht auch schon meine Mutter neben mir und übernimmt die Bedienung. Und während sie den Cappuccino und einen Espresso zubereitet, begebe ich mich zurück an das Putzen des Regals. Durch die verspiegelte Rückwand kann ich Lennard dabei einigermaßen unauffällig beobachten. Es dauert nicht lange, bis er immer gestenreicher mit seinem Dad diskutiert und offenbar nur mit Mühe seine Lautstärke im Zaun hält, damit nicht das gesamte Eiscafé Zeuge ihres Streits wird. Irgendwann springt Lennard auf, zerrt seine Jacke von der Lehne des Stuhls und stürmt hinaus. Sein Vater sieht ihm scheinbar ratlos nach, und als seine Frau ihre schmale Hand auf seine legt, neigt er den Kopf und atmet mit geschlossenen Augen tief durch.

Ich weiß nicht, was in diesem Moment mit mir geschieht. Aus einem tiefen Impuls heraus springe ich erneut von dem Hocker und wispere meiner Mom ein »Bin gleich wieder da« zu, ehe ich Lennard nacheile, hinaus in den Februarregen.

Ich entdecke ihn schon weit entfernt, auf den Treppenstufen, die zu den umliegenden Geschäften führen.

»Lennard!«, rufe ich im Rennen. So laut, dass er abrupt stehenbleibt, einen Moment lang verharrt und sich dann so langsam zu mir umdreht, dass ich ihn fast schon erreicht habe, als er mich endlich ansieht. »Was ist?«, fragt er schroff.

Ein wenig aus der Puste bleibe ich stehen. Ahnungslos, was ich ihm antworten soll. Im Endeffekt entscheide ich mich für ein simples »Alles klar bei dir?«.

»Wärst du hier, wenn es danach aussähe?«

»Nein«, gestehe ich kleinlaut.

»Du solltest wieder reingehen, es ist kalt.«

»Du sahst so wütend aus.« Er zuckt mit den Schultern und pfercht seine Hände in die Fronttaschen seiner Jeans. »Tja, weil ich wütend bin.« Er verfolgt im Blick die Streukiesel, die er von den Treppenstufen kickt. Als ich mich Sekunden später immer noch nicht gerührt habe, sieht er mich wieder an. »Ernsthaft, geh rein, du holst dir noch eine Lungenentzündung in diesem dünnen T-Shirt, Lorena.«

Meine Augenbrauen heben sich.

Lorena …

Ich mochte meinen Namen noch nie. Aber aus seinem Mund klingt er einfach nur schön.

»Okay. Aber du schreibst uns heute Abend, richtig?«, frage ich und könnte mir im selben Moment dafür in den Hintern treten, so hoffnungsvoll zu klingen. Er kneift seine grünen Augen ein wenig zusammen, mustert mich beinahe prüfend. »Ja.«

»Okay.«

Als Abschiedsgruß spreizt er die Daumen vom Rest seiner nach wie vor in den Hosentaschen steckenden Hände ab und stiefelt dann davon, ohne sich noch einmal zu mir umzudrehen.

***

Lennard Sullivan / 09:44 p.m.

 

Hallo zusammen!

Es ist kaum zu glauben, aber es haben sich schon 25 Leute gemeldet, um eine neue Musicalgruppe zu gründen. Klasse!

Ich habe heute mit der Leiterin des Jugendzentrums in Norwalk gesprochen. Sie will unsere Truppe unter den Deckmantel des Jugendrings der Stadt nehmen. So wären wir versichert und müssten uns nicht als eigenständiger Verein eintragen lassen, was wirklich gut wäre, denn auf diesen Bürokratiemist hätte ich nicht die leiseste Lust. Der große Raum des Jugendzentrums steht uns immer montags und donnerstags in der Zeit von 17:00 bis 19:00 Uhr zur Verfügung. Also, sehen wir uns diesen Donnerstag um 17:00 Uhr? Ich erstelle eine Gruppe, damit wir uns kurzfristig austauschen können.

Am Donnerstag informiere ich euch über die ersten Schritte, die wir jetzt einleiten müssen. Mal sehen, ob ihr dann überhaupt noch Lust habt. ;-)

Ich für meinen Teil bin mir nach wie vor sicher, dass wir etwas viel Besseres auf die Beine stellen können als das, was unsere Lehrer seit Jahren als ’unser Bestes’ verkaufen.

In diesem Sinne, bis Donnerstag.

 

Lennard

***

In den folgenden Tagen laufen Lennard und ich uns in der Schule ab und zu über den Weg. Jedes Mal erwidert er meinen Gruß zwar, doch er grüßt nie von sich aus und wendet sich immer ab, ehe ich auch nur einen halben Satz mit ihm wechseln kann.

Am Mittwoch spüre ich seinen Blick plötzlich als Kribbeln in meinem Nacken, drehe mich um … und sehe ihn ganz alleine am entgegengelegenen Ende des Schulhofes stehen. Er schafft es gerade nicht mehr, rechtzeitig den Kopf zu neigen. Mein Herz rast und mein Eindruck, ihn ertappt zu haben, verschärft sich, als er für zwei, drei Sekunden von einem Fuß auf den anderen tritt, ehe ich mich wieder zu Dean umdrehe.

»Komischer Kauz, nicht wahr?«, fragt der, denn unser kleines Intermezzo ist auch ihm nicht entgangen.

»Kannst du laut sagen«, erwidere ich seufzend.

»Ach, Lori.« Mitfühlend legt er einen Arm um mich. »Diese bescheuerte Liebe, oder?«

Empört sehe ich ihn an. »Sag mal, spinnst du jetzt? Ich bin doch nicht in Lennard verliebt.« Erst zu spät erkenne ich, dass Dean nicht nur von mir spricht. Sein Arm mag um meine Schulter geschlungen sein, doch sein ungewöhnlich trauriger Blick hängt dabei an Anthony Gordon. Anthony und er waren lange Zeit gute Freunde, bis Dean bewusst wurde, was er zuvor erfolgreich verdrängt hatte: Dass er mehr für Anthony empfand, als nur Freundschaft.

Erschrocken machte er dicht, traf sich wieder mehr mit mir und dachte sich immer neue Ausreden aus, wenn Anthony ihn fragte, ob sie etwas zusammen unternehmen wollten. Bis heute wissen nur Quentin und ich, dass Dean homosexuell ist. Und auch, dass er Anthony nach wie vor heimlich anhimmelt, ist unser Geheimnis und wird es mindestens so lange bleiben, bis Dean irgendwann den Mut aufbringt, sich zu outen.

Als der ahnungslose Anthony nun von hinten die Arme um seine Freundin schlingt und ihr einen Kuss auf die Schläfe drückt, schluckt Dean hart und wendet sich ab.

»Ach, erzähl doch keinen Müll, du bist bis über beide Ohren in Lennard verknallt. Und wenn nicht, dann tu wenigstens so, damit ich mich nicht so allein in meiner Erbärmlichkeit fühle«, sagt er leise. Quentin, der eine Weile am Kiosk angestanden hat, kommt zu uns und streckt seinem Bruder die gekaufte Wasserflasche hin.

»Wir könnten ja so tun, als wären wir beide ein Paar«, schlage ich Dean mit herausfordernd hochgezogenen Augenbrauen vor. »Dann könnte ich testen, ob Sullivan zumindest einen Funken Interesse an mir hat.«

Obwohl ich ihn eigentlich nur aufheitern wollte, fällt Deans Lächeln sehr schwach aus. »Ich habe es langsam, aber sicher satt, mich zu verstellen, weißt du?«

»Und dass Sullivan Interesse an dir hat, ist auch so offensichtlich, Lori«, befindet Quentin mit seinem typischen Lausbubenblick. »Aber wenn du das unbedingt überprüfen willst, spiele ich gerne den Lockvogel für dich, Kleines.« Damit legt er seinen starken Arm um mich, doch ich knuffe ihm nur lachend in die Seite und schüttele ihn wieder ab. Muskulös, mit seinem blonden Haar und den hellblauen Augen, ist Quentin nicht nur optisch Deans Gegenteil. Auch in ihrer Art ähneln sich die Zwillinge kaum. Quentin ist der sportlichere, offenere, selbstbewusstere der beiden, Dean eher künstlerisch veranlagt und längst nicht so extrovertiert wie sein um zwei Minuten älterer Bruder. Doch beide tragen das Herz am rechten Fleck und verstehen sich sehr gut miteinander.

»Ich glaube, Lennards Mutter hat Krebs«, entfährt es mir plötzlich.

»Was, wirklich?«,fragen die Brüder wie aus einem Mund.

»Ja. Als sie im Eiscafé waren, trug sie ein Tuch um den Kopf und sah nicht gut aus.«

Quentins Stirn legt sich in Falten. »Hm. Vielleicht ist das ja der Grund für sein Einsiedlerkrebs-Verhalten?«

»Mag sein«, entgegne ich halbherzig, denn eigentlich zweifle ich an dieser Theorie. Lennards introvertierte Art macht auf mich den Eindruck, als wäre sie viel tiefer in ihm verankert.

»Vielleicht erfahren wir ja durch die neue Musicalgruppe mehr von ihm«, sagt Dean schulterzuckend, gerade als der Gong ertönt. »Ich meine, manche Menschen wirken ja vollkommen anders als sie eigentlich sind.«

»Ich bin schon gespannt, was ihr von dem ersten Treffen erzählt«, sagt Quentin. »Für mich ist das Geträller und Herumgehopse einfach nichts. Aber als Lichttechniker stehe ich euch gerne zur Verfügung, das könnt ihr Lennard ja sagen.«

***

Mit schweißfeuchten Händen drücke ich die Tür zum Jugendzentrum auf, Dean direkt hinter mir.

Dem Klang von Musik folgend, kommen wir in einen großen Raum, in dem eine Tischtennisplatte, ein Billardtisch und zwei Tischkicker stehen. Eine der orangenen Wände wurde mit einem Graffiti verschönert, dessen Buchstaben ich allerdings nicht verstehe. Vermutlich hängt mein Blick zu lange an dem modernen Kunstwerk. Gänsehaut bildet sich auf meinen Armen und die feinen Härchen in meinem Nacken stellen sich auf, doch beides geschieht zu schnell, als dass ich die Vorboten erkennen könnte.

»HdJ«, erklärt Sullivan. Ich wirbele zu ihm herum. Er sieht unglaublich gut aus, mit seinen ausgewaschenen Jeans und dem schlichten Sweatshirt, wie er so lässig in Richtung der besprühten Wand nickt.

»Das heißt Haus der Jugend. Das Graffiti stammt aus älteren Zeiten, als das noch die offizielle Bezeichnung der Einrichtung war.«

»Oh, okay«, sagt Dean, als ich es nicht schaffe, etwas zu erwidern.

»Ihr könnt euch etwas zu trinken aus dem Kühlschrank in der Küche nehmen. Die Preise stehen auf der Liste an der Tür. Das Geld werft ihr einfach in das Sparschwein, davon werden dann neue Getränke gekauft.«

Dean und ich nicken, und während Sullivan sich an der Musikanlage zu schaffen macht, schlüpfen wir in die angrenzende Küche. Als wir zurückkommen, hat sich der Raum bereits deutlich gefüllt. Wir begrüßen ein paar bekannte Gesichter aus dem Chor, bevor wir Lennards Aufforderung folgend auf der riesigen alten Couchlandschaft und einigen Sitzkissen Platz nehmen. Er selbst holt sich einen Stuhl und setzt sich mir gegenüber rücklings darauf, mit der Lehne zwischen seinen gespreizten Beinen.

»Also, erst einmal ist es echt cool, dass sich überhaupt so viele von euch gemeldet haben. Das hat mich angespornt so schnell wie möglich diesen Proberaum zu organisieren. Wir werden die Kicker und alles andere an die Seite räumen und anschließend wieder aufbauen müssen, aber dann sollten wir hier genug Platz zum Proben haben.«

»Bleibt nur noch die Frage zu klären, was wir überhaupt proben. Gibst du das vor?«, fragt ein Junge.

»Ich werde drei Vorschläge machen, aus denen ihr auswählt.«

»Und du wirst so eine Art Regisseur sein?«, hakt Anna nach, eine Sopranistin aus dem Chor, die in meine Stufe geht.

»Genau. Ich werde die Organisation übernehmen, den Schauspielunterricht und meinetwegen auch das Gesangstraining. Was ich aber definitiv abgeben muss, ist die Choreographie der Tänze.«

»Gibt es eine Tanzgruppe und einen Chor, wie in der Schule?«, fragt Emanuel, der kleine tanzende Dieb, dem Lennard beim Betreten der Bühne noch so aufmunternd über das Haar gewuschelt hatte. Jetzt hingegen schüttelt er den Kopf.

»Nein. Wir werden das alles so handhaben wie in einem professionellen Stück. Ihr alle werdet singen und tanzen und schauspielern. Jeder, so gut er es eben kann. Nur die Hintergrundmusik wird vom Band kommen. Damit wir als Gruppe richtig zusammenwachsen, werden wir die Bühnenbilder gemeinsam gestalten und die Kostüme basteln. Ich hoffe, das ist in eurem Sinn. Das bedeutet natürlich auch, dass wir sehr viel selbst machen müssen, weil wir quasi über kein Budget verfügen.«

»Was ist mit Sponsoren?«, fragt Dean. Lennard nickt. »Sobald wir uns auf ein Stück geeinigt haben, können wir die großen Firmen der Umgebung ansteuern und auf Sponsorenfang gehen.«

Eine Weile diskutieren wir noch gemeinsam über die Durchsetzung unserer Pläne, bis Lennard uns verkündet, dass wir für die vier Aufführungen, die er in den beiden großen Aulen der naheliegenden Schulzentren plant, circa viertausend Dollar zusammenkriegen müssen.

»Wow, das ist eine Menge Geld«, entfährt es mir.

Lennard sieht mich lange und eindringlich an. »Ja, das ist es. Aber es wird sich lohnen, da bin ich mir ganz sicher. Es ist an der Zeit, dass wir zeigen, was wir können. Außerdem werden wir ja auch wieder Geld einspielen und damit könnte man dann das nächste Stück finanzieren.«

»Ich frage mal meinen Vater«, sagt Dean. »Uns gehört die Verpackungsfabrik im Industriegebiet. Vielleicht drückt er ja was ab, wenn wir dafür seine Werbung aufhängen.«

Lennard zuckt mit den Achseln. »Von mir aus tapeziere ich die Wände der Aulen mit seinem Firmenlogo, wenn er uns dafür mitfinanziert.«

Alle lachen, was ihn fast ein wenig erstaunt in die Runde blicken lässt. Aber er blinzelt nur ein Mal, dann ist er wieder vollkommen gefasst. »Also gut. Grease, Chicago oder Moulin Rouge stehen zur Auswahl.«

Einen Moment lang bleibt es ganz still, dann schallt ein Geräuschmix aus Lachen, ungläubigem Schnaufen und Jubelrufen durch den Raum. Sogar Lennard grinst kurz, als er begreift, wie gut seine Vorauswahl ankommt. »Was? Dachtet ihr wirklich, ich lasse euch zwischen Annie Get Your Gun, Der Zauberer von Oz und Anatevka auswählen? Wir waren uns doch einig, dass wir uns von den Schulaufführungen abheben wollen.«

Alle nicken freudig, dann wird heiß hin und her diskutiert. Angesichts der Tatsache, dass wir wesentlich mehr Mädchen als Jungen sind und kein Mädchen einen Jungen spielen will, wird die Luft für die Grease- und Chicago-Anhänger bald sehr dünn. Im Endeffekt geht mein Favorit, Moulin Rouge, als deutlicher Gewinner der Abstimmung hervor.

»Vergesst aber die Filmversion«, warnt Lennard, als unsere Euphorie in Ausgelassenheit überzuschwappen droht. »Das, was ihr im Fernsehen oder Kino gesehen habt und was euch so begeistert hat, lässt sich auf der Bühne nicht umsetzen. Ich werde das gesamte Skript umschreiben müssen.«

»Brauchst du Hilfe dabei?«, höre ich Dean neben mir fragen. »Unsere Lori hier ist unglaublich gut in solchen Dingen.«

Ich fahre meinen Ellbogen aus und platziere ihn schwungvoll zwischen seinen Rippen.

Lennard mustert mich mit herabgezogenen Augenbrauen. »Könnte vielleicht nicht schaden, ja. Ich melde mich bei dir.« Dann wendet er sich wieder der kompletten, inzwischen sehr unruhigen Runde zu.

»Okay. Also, ich denke, die Zeit bis Montag reicht aus, um einen Song aus dem Stück einzustudieren. Nur den Gesang natürlich. Jeder, der sich für eine Rolle bewirbt, sollte eine kleine Szene seines Wunschcharakters vorspielen und ein Lied singen.«

»Du willst ein Casting machen?«, fragt ein aufgedrehtes Mädchen aus der Mittelstufe.

»So macht man das üblicherweise«, sagt Lennard nüchtern. »Also, lasst uns aufhören, für heute sind wir durch. Wir sehen uns dann am Montag wieder. Das heißt, alle, die nur im Ensemble singen und tanzen wollen, brauchen natürlich erst nächsten Donnerstag wiederzukommen.«

»Ich würde gerne die Choreographie übernehmen«, höre ich Joanne sagen, ein Mädchen, das gemeinsam mit Lennard in die Stufe geht, als ich mein Sitzkissen zu den anderen auf die Fensterbank lege. Dean nimmt mir meine leere Wasserflasche ab und bringt sie zusammen mit seiner in die Küche. Ich tippe auf meinem Handy herum und achte dabei unauffällig auf Lennards Reaktion. Er nickt und lächelt sogar ein wenig. Sofort macht sich Eifersucht in mir breit. »Hättest du es nicht angeboten, hätte ich dich sowieso gefragt«, lässt er Joanne wissen.

»Komm, gehen wir«, zische ich Dean zu, als er zurückkommt. Ich hake mich bei ihm unter und ziehe ihn mit mir. »Bis Donnerstag!«, rufe ich im Hinausgehen.

»Donnerstag?«, wiederholt Lennard gerade so laut, dass ich es noch höre. »Du willst … Moment!«, ruft er dann. Nur einen Augenblick später ist er bei mir. »Kann ich kurz mit dir reden?« Er blinzelt zu Dean. »Allein?«

Verdutzt schaue ich meinen besten Freund an. Doch anstatt pikiert zu sein, breitet sich ein Lächeln auf Deans Gesicht aus. »Ich warte draußen auf dich«, sagt er nur. Lennard wartet, bis auch Joanne ihre Jacke übergestreift und sich verabschiedet hat.

Erst als die Eingangstür schwer hinter ihr zufällt, schaut er von seinen Schuhspitzen zu mir auf.

»Müssen wir denn nicht hier raus?«, frage ich mit plötzlich sehr trockener Kehle.

»Wir haben noch zehn Minuten. Du willst … also nur im Ensemble spielen?«

»Ja?«

»Und warum, wenn ich fragen darf?« Sein Tonfall ist patzig und fast ein wenig vorwurfsvoll.

»Keine Ahnung. Ich …«

»Aha.«

»Was, aha?«

»Du hast wirklich keine Ahnung, oder?«

»Wovon?« Dieser Typ verwirrt mich total mit seiner seltsam undurchsichtigen Art. »Davon, was für ein Talent in dir schlummert, Lorena«, platzt es voller Ungeduld aus ihm heraus.

»Ta-lent?«, stammele ich verdutzt. Er enthält sich seiner Antwort und stößt stattdessen nur ein humorloses Lachen aus. »Du kennst das Stück, richtig?«

»Moulin Rouge? Ähm, ja. Es ist mein Lieblingsmusical.«

»Gut. Sing für mich!«

»Was? Nein!«

Unbeirrt geht er zur Fensterbank und kramt in seinem darauf stehenden Rucksack nach einer CD, die er kurz darauf auch entschlossen einlegt. Schon erklingen die ersten Töne von Satines One Day I’ll Fly Away. Die Instrumentierung ist exakt die des Originals, nur Nicole Kidmans Stimme fehlt.

Oh Gott, ein Playback!

Ich rühre mich keinen Millimeter, unfähig auch nur zu atmen. Lennard sieht mich einige Sekunden erwartungsvoll an, doch ich lasse einen möglichen Einsatz nach dem anderen ungenutzt verstreichen. »Warum singst du nicht, Lorena?«, fragt er schließlich spürbar entnervt.

»Weil … ich das nicht kann.« Er schnaubt. Und dann, plötzlich, lächelt er. Ein wenig schief, aber ausnahmsweise einmal ohne die geringste Spur von Spott oder Überheblichkeit. Ganz im Gegenteil, dieses Lächeln ist wunderschön. Weich und warm, beinahe liebevoll.

»Sicher kannst du«, wispert er und geht einen Schritt auf mich zu. »Man hat dich bei den Proben aus dem kompletten Chor herausgehört.«

Erdboden, verschlucke mich!

»Das ist es ja! Mr Baker sagt ständig, ich soll leiser singen«, plappere ich in meiner Nervosität drauflos. Lennards Lächeln dehnt sich weiter. So weit, dass es sogar seine mandelförmigen Augen erreicht, deren äußere Winkel jetzt von vielen kleinen Fältchen umrahmt werden. »Mr Baker ist ein Idiot«, sagt er platt und kommt noch einen Schritt näher. Nun steht er nur noch eine Armlänge vor mir. »Er hört, dass deine Stimme etwas Besonderes ist, aber anstatt dich zu ermutigen und dir ein Solo zu geben, zwängt er dich zurück in die graue Masse der Durchschnittlichkeit. Und genau das wird es in dieser Gruppe nicht geben.« Seine Miene wandelt sich, wird wieder ernster. »Also los! Sing!«

»Nein«, sage ich und schüttele vehement den Kopf. »Ich will wirklich nur im Ensemble singen, Lennard. Dass ich dabei tanzen muss, kostet mich schon genug Überwindung.«

»Sing!«

»Nein!«

»Sturkopf!«

»Wie bitte?«

»Ich sagte, dass du stur bist.« Mit nun wieder sehr kühlem Blick wendet er sich ab. Empört stütze ich die Hände in die Seiten. »Warum beißt du dich ausgerechnet an mir fest?« Er schießt zu mir herum, funkelt mich an. Sogar sein Zeigefinger erhebt sich, so wütend ist er plötzlich. »Weil ich nicht tatenlos abwarten will, bis sich am Montag all die anderen Mädchen auf die Hauptrolle bewerben, wenn ich jetzt schon weiß, dass die Eine, die Satine wirklich singen könnte, nicht einmal begriffen hat, dass sie diejenige ist.«

Mein Mund öffnet sich, doch jeglicher Einwand bleibt irgendwo in meiner Kehle stecken.

Das Playback geht zu Ende und nach einer kurzen Pause setzt stattdessen das Elephant Love Medley ein. Lennard und ich rühren uns nicht, kämpfen weiterhin stumm um Dominanz. Ich sehe, dass seine Nasenflügel zucken, ebenso wie sein Kinn. Dann, für mich völlig unverhofft, teilen sich seine Lippen erneut und eine seiner Augenbrauen zieht sich ein wenig hoch. Energisch schießt er mir die erste Zeile des Songs entgegen.

Natürlich ist es nur ein Liedtext, aber ich weiß wirklich nicht, wie mir geschieht, als Lennard Sullivan so plötzlich behauptet, wir wären schlichtweg dafür gemacht einander zu lieben und mich dabei auch noch Baby nennt.

 

Ich begreife so wenig in diesem Moment. Verstehe nicht, dass ich ihn nun doch – mit einer Verspätung von genau einer Woche – zum ersten Mal habe singen hören. Ich erfasse nicht, wie wunderschön männlich seine Stimme klingt und ebenso wenig, dass er mit diesem Bruch unserer kämpferischen Stille gewonnen hat.

Denn ehe sein letzter Ton vollständig verhallt ist, kopiere ich seine freche Miene bereits und entgegne beinahe intuitiv mit den schlagfertigen Zeilen der Kurtisane Satine, dass seine einzige Chance mich zu lieben darin besteht, mich auch angemessen dafür zu bezahlen.

Noch während ich singe, durchzuckt mich die Erkenntnis, dass Lennard mich irgendwie genau da hingebracht hat, wo er mich haben wollte. Er hat mich wütend gemacht und dann meinen eigenen Zorn genutzt, um sein Ziel zu erreichen. Er hat mich ausgespielt.

Dummerweise zuckt das süßeste kleine Lächeln als Zeichen seines Triumphs um seine Mundwinkel, und als er mit einem Schritt die letzte Lücke zwischen uns schließt und mir tiefer als je zuvor in die Augen schaut, kann ich keinen weiteren Gedanken mehr daran verschwenden, sauer auf ihn zu sein. Ich erwarte, dass Lennard nun, da ich mich auf sein kleines Spiel eingelassen habe, weitersingt, doch er lacht nur und lässt seinen nächsten Einsatz verstreichen. »Ich wusste es«, flüstert er und bläst mir mit diesen drei kleinen Worten auch noch seinen Duft ins Gesicht. Es ist das erste Mal, dass ich ihn so bewusst rieche. Er riecht ein wenig nach Duschgel, Minze, Leder … und nach ihm, Lennard.

Ich inhaliere tief und blinzele verdutzt. »Was wusstest du?« Er schenkt mir nur die Andeutung eines Grinsens und weicht dabei schon wieder zurück. Mit wenigen schnellen Handbewegungen hat er die CD aus der Anlage geholt, weggepackt und seinen Rucksack geschultert, bevor ich mich auch nur ansatzweise gefasst habe. Seine Lederjacke trägt er im Arm. »Was wusstest du?« frage ich erneut, dieses Mal energischer, während er, noch immer schmunzelnd, an mir vorbeimarschiert. »Lass dich als Satine casten!«, kommandiert er nur und verlässt dann den Raum, ohne mich eines weiteren Blickes zu würdigen.

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