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SO WIE DIE HOFFNUNG LEBT

Leseprobe und Trailer

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

I.

~ Katie ~

Herzen brechen lautlos.

Meines brach in einer warmen Spätsommernacht vor fast dreiundzwanzig Jahren. Das war im August 1992 und nur zehn Tage nach meinem achten Geburtstag.

 

Die seltsamsten Dinge schießen mir durch den Kopf, sobald ich die sorgsam verschlossene Schublade mit den Erinnerungen an jene Nacht auch nur einen Spaltbreit öffne.

Sie flattern mir entgegen – düster, chaotisch und beängstigend – wie Fledermäuse aus einer verborgenen Höhle. Bruchstücke einer verdrängten Vergangenheit, die mich wie eine Lawine überrollen und unwillkürlich bewirken, dass sich mein Magen schmerzhaft zusammenzieht.

 

Da wäre zum einen der schwere, süße Duft von eingewecktem Obst – Pflaumen, Mirabellen und Johannisbeeren –, der mich an meine Mutter erinnert. Ausgehend von der Küche bahnte er sich seinen Weg und flutete das gesamte Haus, bis in die letzten Winkel hinein.

Und dann ist da das Geräusch der Minnie Mouse-Uhr, die über meiner Zimmertür hing. Ich hatte sie erst wenige Tage zuvor von meiner Tante Jacky als verspätetes Geburtstagsgeschenk bekommen. Tante Jacky war Grundschullehrerin und als solche immer darauf bedacht, keine in ihren Augen sinnlosen Dinge wie Plüschtiere oder Barbiepuppen zu verschenken. Die Wanduhr hatte sie offenbar als pädagogisch wertvoll und meinem Alter angemessen erachtet.

Ich erinnere mich noch, dass ich die vollen, halben und Viertelstunden bereits sicher ablesen konnte, dass mich das fortwährende Ticken jedoch nervte, besonders nachts. Rückblickend kommt es mir so vor, als hackte der Stakkato-Rhythmus dieser rot-weiß gepunkteten Uhr die friedliche Ruhe erbarmungslos in akkurate kleine Stücke.

Ebenso erinnere ich mich an das Quietschen der metallenen Ösen unserer Schaukel, deren Gerüst direkt unter meinem Zimmerfenster stand und die sich im lauen Wind jener Spätsommernacht hin und her drehte. Ich liebte diese Schaukel. Überhaupt liebte ich unseren großen Garten mit all seinen Versteckmöglichkeiten, die ich im Laufe der Zeit ausfindig gemacht hatte.

Niemand konnte sich besser verstecken als ich. Jedoch bremste meine zehnjährige Schwester Alice meinen Spiel- und Forschungstrieb oft genug aus. Sie war von Natur aus eher ruhig und bedacht und ließ keine Chance aus, mich zu bevormunden. Immer wieder murmelte Mom vor sich hin, dass es ihr ein ewiges Rätsel bleiben würde, wie zwei Mädchen, die sich äußerlich so ähnelten wie Alice und ich, charakterlich doch so verschieden sein konnten. Ich schloss daraus, dass sie sich wünschte, ich wäre ein bisschen mehr wie meine zwei Jahre ältere Schwester. »So verantwortungsvoll und vernünftig«, wie Daddy es immer ausdrückte.

Mit meinem vier Jahre alten Bruder Theo konnte man noch nicht viel anfangen. Immerzu hing er an Moms Rockzipfel, und seine Schmusedecke musste stets in Reichweite liegen, für den Fall, dass er müde war, trotzig oder sich wehgetan hatte. Also immer.

Doch auch wenn es nicht gerade leicht war, das Sandwich-Kind der Familie zu sein, liebte ich meine Geschwister von Herzen. Ich mochte es, wie Theo meine Finger mit seiner kleinen knubbeligen Hand umschloss, wenn wir ab und an zusammen in seinem oder meinem Bett Mittagsruhe hielten. Wie klar und strahlend mich das helle Blau seiner Augen traf, wenn er erwachte. Und wie er dann meinen Namen sagte. »Katie!« So fröhlich, mit vom Schlaf noch krächzender Stimme. Ruckartig setzte er sich auf und schenkte mir ein unternehmungslustiges Grinsen.

Und Alice? Alice war die beste Gruselgeschichtenerzählerin aller Zeiten. Überhaupt hatte sie eine unglaubliche Fantasie, verschlang Bücher wie Chips, tanzte in meinen Augen so anmutig wie eine Primaballerina und war auch mit den Händen sehr geschickt. So bastelte sie mir in jenem Sommer ein beinahe lebensgroßes Pferd aus Pappmaché, das zwar einen zu kurzen Hals und ein abgeknicktes linkes Ohr hatte, auf dem man aber tatsächlich richtig »reiten« konnte.

Ich glaube nicht, dass ich Alice je mehr liebte als in diesem Augenblick, in dem sie mir ihr Bastelergebnis stolz präsentierte und meinen Freudenschrei mit einem zufriedenen Lachen erwiderte. Natürlich wusste sie, wie sehr ich mir ein eigenes Pony wünschte und dass unsere Eltern nicht über die finanziellen Mittel verfügten, mir diesen Traum zu erfüllen. Ich nannte mein Pappmaché-Pferd Toffee und hoppelte so lange wild darauf herum, bis die Oberfläche erste Risse aufwies. Die schützende Lackschicht begann in immer größeren Stücken abzublättern, und als das nächste Sommergewitter über unser kleines Haus hinwegpeitschte, fiel mein Liebling dem sintflutartigen Regen zum Opfer. Nachdem Daddy Toffees klägliche Überreste beseitigt und ich stundenlang geheult hatte, versprach Alice, mir ein neues, noch stabileres Pferd zu bauen, wenn ich nur endlich aufhören würde zu weinen. Sofort beendete ich mein Gejammer.

Keiner von uns ahnte damals, dass Alice nicht mehr dazu kommen würde, ihr Versprechen in die Tat umzusetzen. Wohl sammelte sie die Kartons meiner Geburtstagsgeschenke noch ein, um sie zu verarbeiten, doch dann kam ihr das Schicksal zuvor.

 

Es geschah zehn Tage nach meinem achten Geburtstag, zu später Stunde des 13. August 1992. Nichts Bedrohliches haftete dieser Nacht an. Die Luft war angenehm warm, und der Wind, der unsere Schaukel behutsam anstieß, sanft und lau. Ich erinnere mich noch genau, es roch nach frisch eingewecktem Obst, als mein komplettes Dasein aus den Fugen geriet. Nichts von dem, was ich in stillschweigender Selbstverständlichkeit so an meinem Leben geliebt hatte, war am folgenden Morgen noch da. Dass es die Sonne überhaupt wagte, wenige Stunden später wieder aufzugehen – als hätten die furchtbaren Ereignisse nie stattgefunden –, erscheint mir bis heute, fast dreiundzwanzig Jahre später, noch grotesk.

 

Wie so oft, wenn ich mitten in der Nacht erwachte, schaltete ich die kleine Lampe neben meinem Bett an und probierte mit verschiedenen Fingerstellungen aus, welche Schatten ich auf die blau-gelb geblümte Tapete werfen konnte. Als ich auf einmal die Stimme meines Vaters hörte und diese immer lauter wurde, erstarrte ich, und der stolze Schwan, den meine Hände gerade geformt hatten, knickte erschrocken in sich zusammen.

Ich verstand nicht, was Daddy sagte, und schon gar nicht, was Mom antwortete, aber ich spürte, dass sie sich in einen Streit hineinsteigerten. Ich weiß noch, dass ich begann, die Blütenblätter der blauen Blumen auf meiner Tapete zu zählen, und dass ich wieder und wieder von vorne beginnen musste, weil mich die lauten Stimmen meiner Eltern zu sehr ablenkten. Irgendwann hörte ich Mom Onkel Harrys Namen schreien, und Daddy brüllte ihn kurz danach ein zweites Mal, obwohl ich mir sicher war, dass Onkel Harry nicht anwesend war, denn er besuchte uns nur tagsüber.

 

Onkel Harry war nicht wirklich unser Onkel. Er war schon immer Daddys bester Freund gewesen, schon in der Grundschule. Außerdem war Onkel Harry auch Moms guter Freund und Alice’ Patenonkel, worauf ich ehrlich gesagt ziemlich eifersüchtig war. Denn meine Patentante Anna, mit der Onkel Harry einmal verheiratet gewesen war, kannte ich eigentlich nur noch von den Fotos meiner Taufe. Onkel Harry hingegen kam oft zu uns nach Hause und half Mom bei der Gartenarbeit oder spielte mit Daddy Karten. Ich mochte Onkel Harry, weil es ihm nie zu viel wurde, wenn wir mit ihm herumtollten. Und wenn Mom Theo und mich ermahnte, nicht ganz so wild zu sein, lächelte er nur und sagte: »Schon gut, Lilian, es macht mir nichts aus, wirklich nicht.«

Meiner Auffassung nach war Onkel Harry schon immer mehr Familienmitglied als nur Freund gewesen – ob nun richtiger Onkel oder nicht.

 

Aber jetzt schien er etwas wirklich Dummes angestellt zu haben, denn sein Name fiel immer wieder. Daddy brüllte inzwischen richtig, während Moms Stimme immer leiser wurde. Es dauerte eine Weile, bis ich begriff, dass sie weinte.

Und dann vernahm ich die ersten klaren Sätze des Streits aus dem Mund meines Vaters, als er die Küchentür aufriss und in den Flur stürmte: »Nein, Lil!«, schrie er, und seine Stimme klang dabei ganz fremd, so viel Verzweiflung trug sie. »Das lasse ich nicht zu! Ich hätte es verflucht noch mal wissen müssen, dieser verdammte Scheißkerl! Aber ich werde verhindern, dass ihr mir alles nehmt. Macht, was ihr wollt, aber meine Kinder bekommt ihr nicht!«

»Jimmy!«, rief meine Mutter. Sie verstand ich schlechter; ihre Worte schienen von Tränen verschluckt. »Jimmy, bitte! … auch meine Kinder! … bin doch ihre Mutter!«

»Eine gottverdammte Hure, das bist du!«, schallte es prompt zurück, so laut und energisch wie das Bellen eines Hundes.

Damals wusste ich zwar noch nicht, was eine Hure war, aber die tiefe Verachtung, mit der mein Vater meine Mutter so nannte, sprach Bände. Ich zuckte zusammen und fragte mich plötzlich, ob Alice wohl auch wach in ihrem Zimmer lag und sich ebenso ruhig verhielt wie ich.

»Ich weiß, was du vorhast, Lil, ich weiß es genau!«, rief Daddy weiter. Dann folgten einige Worte, die zu leise waren, als dass ich sie hätte verstehen können.

»Nein, Jimmy, nein!« Die Stimme meiner Mom war inzwischen nicht mehr als ein Wimmern, die meines Vaters hingegen wurde wieder lauter.

»Richtig! Nein! Jedes zweite Wochenende und drei Wochen in den großen Ferien? Nie im Leben lasse ich das zu! Wenn ich gehen muss, dann gehen wir alle! Als Familie, so, wie es sein soll!«, schrie er.

Und das war das Letzte, was ich aus dem Mund meines Vaters hörte. Danach war nur ein heftiges Scheppern zu hören, und das metallene Geräusch der Kleiderbügel setzte eindeutige Bilder in meinem Kopf frei. Ohne dass ich es sah, wusste ich, dass Daddy meine Mom gegen die Wandgarderobe geschubst hatte.

Unsere Mutter war eine kleine, zierliche Frau mit dem Gesicht einer Porzellanpuppe. Daddy wirkte fast wie ein Grizzlybär neben ihr, mit seinen breiten Schultern und den kantigen Gesichtszügen.

Das leise Jammern meiner Mom verstummte abrupt – und dann hörte ich die mächtigen Schritte, mit denen mein Vater die Treppe hinaufpolterte. Vermutlich nahm er dabei mehrere Stufen auf einmal, denn ich zählte nur fünf Donnerschläge, die durch die Holzdielen, die Zimmerwände und meinen kompletten Körper echoten, bis die Tür zum Schlafzimmer meiner Eltern aufgerissen wurde.

Mittlerweile bebte ich vor Angst am ganzen Leib.

Mein Vater war immer ein ruhiger und gutherziger Mann gewesen. Ich konnte mich nur an wenige Augenblicke erinnern, in denen er seine Stimme gegen uns Kinder erhoben hatte, geschweige denn seine Hand. Tante Jacky nannte ihn manchmal »sanfter Riese«, und ich fand diese Bezeichnung sehr passend, weil Daddy keiner Fliege etwas zuleide tun konnte. Zumindest hatte ich das bis zu diesem Zeitpunkt geglaubt.

 

Für ein paar Sekunden blieb es absolut still. Doch dann hörte ich das Knarren der losen Holzdiele im Flur und das leise Quietschen, mit dem sich Theos Zimmertür öffnete. Es vergingen weitere Sekunden, in denen ich ganz ruhig in meinem Bett saß, bis auf einmal ein dumpfer Knall ertönte, den ich nicht zuzuordnen wusste. Mein Hirn versuchte verzweifelt, Bilder zu diesem Geräusch zu finden, doch nichts, was mir einfiel, passte.

Dann hörte ich, wie die Tür zu Alice’ Zimmer nebenan geöffnet wurde. Wieder vergingen ein paar Sekunden, und wieder durchschnitt dieses seltsam dumpfe Geräusch die Stille.

 

»Jimmy?« Die Stimme meiner Mutter klang unglaublich schwach, als wäre sie gerade erst aus tiefem Schlaf erwacht. Dann rief sie noch einmal. Lauter diesmal und voller Panik: »Jimmy?!«

Mein Daddy antwortete nicht. Doch gerade, als ich mich von meinem Bett erheben wollte, um nach ihm zu sehen, schob sich meine angelehnte Zimmertür weiter auf, und seine große Silhouette tauchte nur wenige Meter vor mir auf. Ich sah ihn an – und verharrte augenblicklich in meinen Bewegungen. Denn vor mir stand nicht mein Vater. Das heißt, natürlich war er es. Aber irgendwie auch nicht.

Denn da lag nichts Vertrautes in dem leeren Blick dieses Mannes. Nichts erinnerte mich an den liebevollen Daddy, der am Tag zuvor noch mein aufgeschürftes Knie geküsst hatte.

Tausend bereits erlebte Szenen durchfuhren mich in diesem winzigen Moment.

Ich dachte an die Sonntage, an denen Daddys fröhliches Pfeifen genauso zu unserem Morgenappell gehörte wie der Duft von frischen Pancakes und Rührei mit Speck. Ich erinnerte mich an sein verschwörerisches Zwinkern, mit dem er Tante Jackys ekligen Blumenkohl an deren verfressenen Dackel Bobo verfüttert hatte, und daran, wie er Alice mit seinem riesigen Zeigefinger zwischen die Rippen gepikst hatte, wann immer sie ihm zu ernst gewesen war.

Ich dachte an all die scheinbar unbedeutenden kleinen Glücksmomente zurück, die wir als Familie erlebt hatten, und wusste, dass sie für alle Zeiten vorbei waren.

Ich wusste es, noch bevor ich den Revolver in seiner Hand bemerkte und damit die Erklärung für den abscheulichen dumpfen Knall fand.

 

Es war, als würde die Zeit stehenbleiben. Ich weiß nicht, ob mein Vater durch das heisere »Daddy?«, das ich hervorpresste, aus seinem geistesabwesenden Zustand schreckte. Vielleicht waren es auch meine vor Angst geweiteten, verstörten und fassungslosen Augen, die ihn Hilfe suchend anblickten.

Ich weiß nicht, was der Auslöser war.

Fest steht, dass aus dieser Gestalt, die mir so fremd und seelenlos gegenüberstand, plötzlich noch einmal mein Dad auftauchte – wenn auch nur für einen winzigen Augenblick. Die Erkenntnis tröpfelte in sein Bewusstsein und ließ ihn verwirrt blinzeln.

Meine Mutter hatte sich in der Zwischenzeit die Stufen unserer schmalen Treppe hochgeschleppt. Ich konnte sie nicht sehen, aber ihre Stimme war nach wie vor von Panik erfüllt. »Jimmy? Was machst du mit dem Revolver, um Gottes willen?«

 

Vielleicht erfasste Mom die offen stehenden Zimmertüren, vielleicht die unheilvolle Stille, vielleicht den furchtbaren Blick meines Vaters, als er sich zu ihr umdrehte.

Ich werde nie erfahren, was ihre Befürchtung in schreckliche Gewissheit verwandelte. Was ich jedoch weiß, ist, dass ich niemals mehr einen Menschen so markerschütternd habe schreien hören wie meine Mutter in diesem Moment. »Neeeeein!«, schrie sie, so lang gezogen und schrecklich herzzerreißend, dass der nächste Schuss, der sich aus dem Revolver meines Vaters löste und diesen Schrei abrupt verstummen ließ, fast einer Erlösung gleichkam.

Dann sah er mich wieder an. Nicht so leer wie zuvor, aber auch nicht wie mein Daddy, den ich acht Jahre lang gekannt, dem ich blind vertraut und den ich über alles geliebt hatte. Mit riesigen, schockgeweiteten Augen blickte er auf mich herab, strauchelte rückwärts aus meinem Zimmer – und schickte dann den letzten Schuss durch diese lauwarme Augustnacht.

 

»Mom?«, hauchte ich zittrig in die Stille, die nur noch von dem Ticken meiner Uhr unterbrochen wurde.

 

»Theo?«

 

»Alice?«

 

Die Namen meiner Geschwister waren die letzten Worte, die meine Lippen verließen. Danach blieb ich still. Vollkommen still, für eine ewig lange Zeit.

 

Denn ja, Herzen brechen lautlos.

​

​

II.

~ Jonah ~

Ich sah Katelyn Christina Williams am 28. Juli 1995 zum ersten Mal, vor beinahe zwanzig Jahren.

 

Ich kann mich genau an dieses Datum erinnern, denn Ruby, meine Betreuerin vom Jugendamt, hatte es bereits zwei Wochen zuvor mit einem roten Marker in dem Kalender an der Zimmertür angekreuzt, und es markierte das Ende meines knapp dreimonatigen Krankenhausaufenthalts.

Ich beäugte es argwöhnisch. Ruby hingegen war völlig aus dem Häuschen.

»Freitag in zwei Wochen, das ist der Termin. Da wirst du endlich entlassen, Jonah!«, frohlockte sie und strahlte mich dabei so breit an, dass ich es einfach nicht übers Herz brachte, ihre anschließende Frage, ob ich mich denn gar nicht freute, ehrlich zu beantworten.

Vermutlich zögerte ich jedoch eine Idee zu lange mit meinem »Doch, klar!« und erwiderte ihr Grinsen nicht überzeugend genug, denn Rubys Gesichtszüge entgleisten. Sie seufzte und setzte sich neben mich auf die Bettkante. Ich musste aufpassen, nicht zur Seite zu kippen, so sehr wurde die Matratze unter ihrem Gewicht zusammengedrückt.

»Hör zu, Jonah. Ich kann mir vorstellen, dass dir bei dem Gedanken an diesen neuen Abschnitt ein wenig mulmig zumute wird. Aber das … Haus, in das ich dich bringe …«

Ich zog die linke Augenbraue hoch, weil es allzu deutlich war, wie sehr sie sich bemühte, das böse H-Wort durch das wesentlich freundlicher klingende zu ersetzen.

Ruby schüttelte missbilligend den Kopf. Ich beobachtete stumm, wie die unzähligen fein geflochtenen Zöpfe dabei um ihr rundes, schokoladenbraunes Gesicht schlenkerten. »Schön, reden wir Tacheles, von mir aus! Also, dieses Heim ist ein ganz besonderes, Jonah. Die Betreuung ist hervorragend, und ich glaube wirklich, dass du dich dort schnell wohlfühlen wirst.«

»Mit der hervorragenden Betreuung meinst du wohl die gottverdammten Psychologen. Ich habe genug von denen. Das sind doch nur wieder neue superkluge Menschen mit der Überzeugung, dass alles besser wird, sobald ich nur endlich anfange, darüber zu sprechen. So ein Schwachsinn!«

Vor lauter Wut war mir ganz heiß geworden, also warf ich die Bettdecke zurück und starrte zornig auf die große Narbe, die auf meinem linken Oberschenkel prangte, unter meiner Boxershorts verschwand und sich vom Stoff verdeckt etwa handbreit über meine Hüfte und Lende bis hoch zu meinem Rippenbogen spannte. Die neue Haut war noch so dünn wie Pergamentpapier und schimmerte auch so ähnlich. Aber es hatte während der Heilung kaum Verwachsungen gegeben, und wenn, dann hatte man sie sofort wieder gelöst.

Die Narbe war noch immer hochempfindlich; selbst das breite, lockere Gummiband meiner Shorts rieb unangenehm darüber. Natürlich war der Schmerz noch da, aber irgendwie trat er von Tag zu Tag mehr in den Hintergrund, als ob ich mich langsam, aber sicher an ihn gewöhnte.

Nur der Schmerz in meiner Brust, der tiefe innere Schmerz, war immer noch da, stets präsent. Wenn überhaupt, war er mit der Zeit nur noch heftiger geworden. Zwar nicht mehr so lodernd und stechend wie zu Beginn, dafür aber dumpf, dröhnend und pochend. Oft kam es mir so vor, als würde mein Herz ihn mit jedem Schlag durch meine Adern pumpen und somit höchstpersönlich dafür sorgen, dass ich ihn von den Haarwurzeln bis in die kleinen Zehen mit jeder Faser meines Körpers und meiner Seele spürte. Immerzu.

Ich schluckte hart. Die nächsten Worte bahnten sich als trotziges Murmeln ihren Weg über meine Lippen. »Gerade habe ich hier einen neuen Freund gefunden. John. Er ist nur eine Woche jünger als ich.«

Ruby nickte. Seltsamerweise wirkte sie kein bisschen erstaunt. »Und warum ist John hier?«

»Blinddarm. Er ist am Montagmorgen notoperiert worden.«

Nun warf sie einen Blick auf den Kalender. »Und heute ist schon Donnerstag. Das bedeutet, ihr habt hier vielleicht noch drei, vier Tage zusammen, bevor er wieder entlassen wird. Danach geht er zurück nach Hause, zu seinen eigentlichen Freunden, und erinnert sich vermutlich in ein paar Wochen nicht mal mehr an deinen Namen.«

Ich starrte sie an – fassungslos ob ihrer schonungslosen Offenheit –, doch Ruby zuckte nur mit den Schultern. »Du warst derjenige, der nicht länger um den heißen Brei herumreden wollte. Also sage ich dir nur, was wirklich Sache ist, ganz geraderaus. Nicht, dass du es nicht selber wüsstest. Du bist der mit Abstand klügste Dreizehnjährige, der mir je untergekommen ist. Und deshalb weißt du auch, dass du dich mehr und mehr vor der Welt dort draußen verschließt, je länger du hierbleibst. Die Schwestern und Ärzte mögen es ja als gutes Zeichen werten, dass du neue Bekanntschaften knüpfst, aber wir beide wissen, dass du dir damit nur ein weiteres Zeitpolster erschleichen willst.« Sie sah mich so eindringlich an, dass ich ihrem Blick kurz auswich, nur um ihm im nächsten Moment umso störrischer zu begegnen. Ruby seufzte. »Jonah, wir haben das doch schon mal durchgekaut. Du kannst deinen Einzug ins Heim nicht ewig aufschieben, auch wenn es ein Schritt ist, vor dem du dich fürchtest. Medizinisch betrachtet besteht keine Notwendigkeit mehr, dich noch länger im Krankenhaus zu behalten. Deine körperlichen Wunden sind gut verheilt.« Sie nickte zu meiner Narbe. »Jetzt ist es an der Zeit, sich um die tiefer liegenden Wunden zu kümmern. Aber das funktioniert nur, wenn du dabei mithilfst, okay?« Der Ausdruck ihrer Knopfaugen wurde weicher, nachgiebiger. Sie beugte sich so nah zu mir heran, dass ich ihr viel zu süßes Parfüm riechen konnte. »Da draußen warten echte Freunde auf dich. Langfristige Freunde, keine flüchtigen Bekanntschaften. Dein ganzes Leben erwartet dich da draußen, Junge.«

»Mag sein«, presste ich nach einer Weile hervor, einfach, um nicht länger wie ein schmollendes Kleinkind zu wirken. Niedergeschlagen zupfte ich die Bettdecke über mein verletztes Bein zurück. »Nur ist es ohne sie ein vollkommen anderes Leben. Es macht mir Angst. Und solange ich noch im Krankenhaus bin, kann ich zumindest …«

Ich ließ den Satz unvollendet. Ruby war die Einzige, mit der ich überhaupt über meine Gefühle sprach, aber in diesem Moment verließ mich mein Mut sogar vor ihr. Doch sie verstand mich auch so. Ihre warme Hand legte sich auf mein dunkelblondes Haar und wuschelte darüber, als wäre es von Natur aus nicht schon wirr genug. »Solange du hier bist, kannst du dir zumindest noch ausmalen, dass du nach deiner Entlassung zurück nach Hause kommst und dort alles wieder so ist wie zuvor. Ist es nicht so?«

Mein Nicken kostete mich unglaubliche Überwindung. Es war so schwer, ihr – und vor allem mir selbst – das einzugestehen. »Schon okay, Jonah«, tröstete sie mich. »Das ist vollkommen verständlich.«

»Aber auch illusorisch.«

»Ein Selbstschutz, nicht mehr. Wir Menschen sind Überlebenskünstler und Meister darin, uns vor traumatischen Situationen abzuschirmen. Selbst wenn das bedeutet, die Tatsachen zu verdrehen. Nur so konnten wir es in der Evolution so weit bringen. Anders als leidende Tiere, die einfach aufhören zu fressen.«

Ich wusste nicht, wem ich mich in diesem Moment näher fühlte, Ruby oder dem armen Vieh, von dem sie sprach. Also seufzte ich, viel lauter als beabsichtigt, und für einen winzigen Moment hob sich dadurch das Gewicht von meiner Brust und ließ mich ein-, zweimal tief durchatmen. Als ich es endlich schaffte, Ruby wieder in die Augen zu sehen, blitzte mir der Schalk daraus entgegen.

»Was?«, fragte ich irritiert. »Was ist jetzt schon wieder?«

»Illusorisch, hm? Welcher Dreizehnjährige benutzt wohl außer dir noch dieses Wort, Jonah?«

Ich grinste matt. »Deine Schuld! Du bist doch diejenige, die mich ständig mit so ’nem Psychokram vollquatscht und mit diesem ganzen Evolutionsmist.«

Nun lachte sie schallend. »Oh Mann, Kleiner! Glaub mir, ich werde dich jeden Monat in diesem Heim besuchen. Und wehe, sie verhunzen dich da, dann bekommen sie es mit good old Ruby persönlich zu tun, das schwöre ich dir!«

»Nur einmal … im Monat?«, brachte ich ängstlich hervor. Ich sah sie an, diese kleine knubbelige, farbige Frau, die ich ganz automatisch in mein Herz geschlossen hatte. Sie, die Einzige, die mich seit meiner Einlieferung ins Rideout Memorial Hospital vor zweieinhalb Monaten täglich besucht hatte und die mich im Gegensatz zu allen anderen nicht mit dieser Singsang-Stimme anredete, die eigentlich nur Kleinkindern, Welpen oder geistig Senilen vorbehalten ist. Wenn Ruby bei mir war, hatte ich nicht zwangsläufig das Gefühl, ein hoffnungsloser Fall zu sein. »Jeden Monat« klang deshalb in meinen Ohren nicht gerade verheißungsvoll, sondern eher wie ein dürftiges Zugeständnis.

»Du wirst mich gar nicht öfter sehen wollen, wenn du erst mal da bist«, prophezeite sie nun. »Ich bin mir wirklich sicher, dass du dich schnell einleben wirst. Und dein Talent zum Malen kann dir dabei helfen, all die neuen Eindrücke zu verarbeiten.«

Bewundernd ließ Ruby ihren Blick über die wenigen Bleistiftskizzen schweifen, die ich während der vergangenen Wochen im Krankenhaus gezeichnet hatte und die rund um den Kalender an der Tür hingen. »Du hast eine echte Gabe, Jonah.«

Eine der Skizzen zeigte den Innenhof des Krankenhauses, wie ich ihn aus meinem Zimmerfenster sah. Eine weitere das Porträt von Schwester Laura, die sich gerne als selbst ernannte Chefin der Station aufspielte und mir immer einen extra Karamellpudding zuschusterte. Und dann gab es noch dieses eine Bild, das aus meiner Erinnerung heraus entstanden war und den riesigen See zeigte, an den ich früher oft zum Baden gefahren war. Umschlossen von hohen Kiefern und dichtem Schilf, mit seinen von runden Steinen und hellem Sand bedeckten Buchten, hatte dieser See immer zu meinen Lieblingsplätzen gehört. Jetzt fragte ich mich, ob ich ihn in absehbarer Zeit wiedersehen würde. Oder jemals. Denn das, was in meiner Erinnerung am lebendigsten aufflackerte, sobald ich an die Tage am See zurückdachte, war nicht mehr da. Meine Mom. Und meine Granny.

Ich bemerkte, dass Ruby nach einer Weile auf den Kalender an der Tür blickte. Gemeinsam starrten wir auf das rote Kreuz.

»Versprichst du mir, dass du es wenigstens versuchst?«, fragte sie schließlich. »Dich ein wenig zu öffnen und dem Leben eine zweite Chance zu geben, auch wenn es ein komplett anderes ist als das, das du bisher kanntest?«

Ich brachte meine Einwilligung nicht über die Lippen. Aber zumindest bekam sie ein Nicken von mir.

***

Die Zeit und ich, wir standen schon immer auf Kriegsfuß miteinander. Wartete ich sehnsüchtig auf etwas, vergingen die Stunden so schleppend wie sonst nur ganze Tage. Und wollte ich möglichst lange an einer besonderen Situation festhalten und sie in vollen Zügen auskosten, rasten die Stunden wie Minuten dahin. Kurzum: Die Zeit konnte ein echtes Arschloch sein.

Und so zeigte sie sich auch in den letzten beiden Wochen meines Krankenhausaufenthalts von ihrer heimtückischsten Seite.

Ehe ich michs versah, stand Ruby schon neben mir und packte meine wenigen Kleidungsstücke in eine große Sporttasche, die von nun an mir gehören sollte. Das Feuer hatte alles vernichtet, was ich besessen hatte. Ruby und ich redeten während des Packens kaum miteinander. Zum einen, weil sie meine Nervosität spürte, zum anderen, weil ihr bewusst sein musste, wie traurig ich im Hinblick auf unsere bevorstehende Trennung war. Ganz ehrlich, an diesem Morgen wusste ich nicht, wie viele Abschiede ich noch verkraften würde.

Während der letzten Visite des Operationsarztes erhielt Ruby eine dicke Akte, die sie bei unserer Ankunft Mr Connor, dem Heimleiter, übergeben sollte. Als mich Schwester Laura schließlich noch an ihre Brust drückte und mir dabei eine Sechserpackung Karamellpudding zusteckte, hätte ich um ein Haar losgeflennt wie ein Dreijähriger. Aber ich riss mich am Riemen, löste mich tapfer aus ihrer Umarmung und verließ das Krankenhaus nur wenige Minuten später – vor Anspannung stocksteif und mit schmerzendem Kiefer, weil ich die Zähne so fest zusammenbiss.

Erst als ich mich auf den Beifahrersitz von Rubys altem Ford sinken ließ, stieß ich die Luft, von der ich bis zu diesem Moment nicht mal wusste, dass ich sie angehalten hatte, in einem tiefen Seufzer aus.

»Und, Kleiner, bist du bereit?«, fragte Ruby.

Ich lachte humorlos auf. »Was denn, sehe ich etwa nicht so aus? … Na los, fahren wir zu diesem Haus mit seiner fabelhaften Betreuung. Yeah, das wird ein Spaß!« Ich schwenkte ein imaginäres Fähnchen und setzte mein bestes Lächeln auf. Ruby honorierte meine miserable Schauspieleinlage zwar mit einem Kopfschütteln, ließ mir meinen Sarkasmus aber kommentarlos durchgehen und startete den Wagen.

 

Die Fahrt vom Krankenhaus zum Heim führte uns in den kleinen Vorort namens Meddington. Es gab nur ein paar Geschäfte, von denen einige tatsächlich noch handbemalte Beschilderungen aufwiesen. Außerdem hatte ich einen Supermarkt, einen Imbiss, ein winziges Café und ein Sonnen-/Nagel-/Friseurstudio am Rande der Straße entdeckt, die allem Anschein nach nicht nur die Hauptstraße war, sondern überhaupt die einzige, die Meddington durchzog. Insgesamt machte dieses Zweitausend-Seelen-Städtchen keinen besonderen Eindruck auf mich. Und ich kannte mich weiß Gott aus, so oft, wie Mom und ich früher umgezogen waren, bevor wir bei Grandma unterkamen.

Doch dieses Mal war ich sprichwörtlich mutterseelenallein unterwegs, und es erwartete mich lediglich ein einziges Zimmer, das ich mir höchstwahrscheinlich mit ein oder zwei anderen Jungs würde teilen müssen. Ich hatte mein Zimmer noch nie mit jemandem geteilt, nicht mal im Krankenhaus, und alles in mir sträubte sich gegen die Vorstellung, dass sich das nun ändern sollte.

»Da sind wir«, sagte Ruby schließlich und schaltete den Motor ihres Wagens ab. Wir duckten uns beide ein wenig, um unter der Oberkante der Windschutzscheibe hinaufzuspähen und das Haus in Augenschein zu nehmen.

Ich weiß nicht mehr genau, was ich damals erwartet hatte, aber ich erinnere mich noch deutlich an meine Verwunderung, über der Eingangstür nicht das Wort Kinderheim oder etwas Ähnliches zu lesen. Eigentlich sah das Gebäude aus wie ein ganz normales gepflegtes Wohnhaus. Zögerlich stieg ich aus und sah mich weiter um.

Eine breite Außentreppe führte zu der überdachten Veranda empor, die komplett um das Haus herumzulaufen schien. Die cremefarbenen holzvertäfelten Wände wiesen zwei größere Erker und im Obergeschoss einige Gauben sowie einen kleinen Turm auf. Auch das Dach wirkte ziemlich beeindruckend auf mich mit seinen vielen kleinen Giebeln, Schrägen und Vorsprüngen. An einer Ecke des Hauses rankten Rosen empor, und im Vorgarten stand eine weiß lackierte Holzbank inmitten von Büschen und prächtig blühenden Blumen in großen Kübeln.

Alles in allem war es ein wunderschönes Anwesen, das unter anderen Umständen vielleicht sogar das Bedürfnis in mir geweckt hätte, es zu malen. Doch bei dem Gedanken, dass dieses fremde Haus von jetzt an mein neues Zuhause sein sollte, verkrampfte sich mein Magen.

Kaum hatte ich die große Sporttasche aus dem Kofferraum gehievt, öffnete sich auch schon die Eingangstür, und ein großer, schlanker Mann, den ich spontan auf Ende dreißig schätzte, kam uns entgegen.

»Hey, da ist ja unser Neuankömmling!«, rief er freudig und strich sich die dunkelblonden, halblangen Haarsträhnen aus der Stirn, die ihm mit dem nächsten warmen Windstoß prompt wieder zurück über die Augen fielen. »Jonah Tanner, richtig?« Widerstrebend schüttelte ich seine Hand und nickte dabei. Seine graugrünen Augen musterten mich offen und freundlich. »Ich bin Julius Connor, der Leiter dieses Heims.«

Ich war überrascht, denn den Leiter eines Kinderheims hatte ich mir irgendwie … seriöser vorgestellt. Wie einen Schuldirektor vielleicht, mit Hemd und Weste, wahrscheinlich als Brillenträger und ganz sicher mit Geheimratsecken oder zumindest angegrauten Koteletten.

Julius Connor hatte nichts von alledem. Er sah eigentlich eher wie ein Surflehrer aus, mit diesem marineblau-weiß gestreiften Poloshirt, dessen Kragen komplett offen stand und den Ansatz seiner üppigen Brustbehaarung preisgab. Die muskulösen Beine steckten in beigefarbenen Bermudashorts und die Füße, von deren Oberseiten sich stellenweise die sonnengegerbte Haut löste, in ausgelatschten Ledersandalen.

»Du kannst mich gerne Julius nennen, wenn du möchtest«, bot er mir an, bevor er sich Ruby zuwandte und sie mit einer herzlichen Umarmung begrüßte. »Big Mamma, es ist so schön, dich endlich einmal wiederzusehen!«, freute er sich, wobei unzählige kleine Lachfältchen seine Augen umrahmten.

»Ruby und ich kennen uns schon seit etwa fünfzehn Jahren«, erklärte Julius mir freiheraus. Offenbar war ihm mein irritierter Blick nicht entgangen. »Damals habe ich meine erste Anstellung im Jugendamt unter ihrer Leitung bekommen, und, na ja, sagen wir einfach, sie hat es mir nicht immer leicht gemacht.«

»Es war auch nicht mein Job, es dir leicht zu machen, mein Lieber«, verteidigte sich Ruby lachend. »Am Anfang warst du nämlich genauso unausstehlich wie jeder andere Frischling. Kamst gerade vom College und trugst die Nase gefühlte zwanzig Zentimeter zu hoch, weil du der festen Überzeugung warst, ohnehin alles besser zu wissen. Da blieb mir gar nichts anderes übrig, als dich erst mal auf den Boden der Tatsachen zu holen.«

Julius legte seinen Arm um Rubys breite Schulter und nickte ihr gutmütig zu. »Du hattest ja ganz recht.«

»Natürlich hatte ich recht«, rief Ruby und stemmte energisch die Hände in die Hüften. »Sieh doch nur, wie gut du geraten bist. Hätten wir dich damals nicht von deinem hohen Ross heruntergeholt, wärst du jetzt vielleicht einer dieser arroganten Sesselpupser, die meilenweit von der Praxis entfernt sitzen, nie wissen, was an der Front wirklich vor sich geht, dafür aber ständig vermeintliche Verbesserungsvorschläge ausbrüten. Pah!« Verächtlich schüttelte sie den Kopf, während Julius nur herzlich lachte.

»Na, dann kommt mal mit rein, ihr zwei! Jonah, die anderen sind schon ganz gespannt auf dich. Besonders Milow, dein Zimmergenosse.«

Oh Mist, ein Zimmergenosse! Wusste ich es doch!

Wir betraten den Hausflur, und ich atmete tief durch die Nase ein. Der Geruch war – wie der jedes Hauses, das man zum ersten Mal betritt – fremd, aber nicht unangenehm. Zuerst blieb mein Blick an der langen Kastenbank hängen, die vor der linken Wand stand. Darüber hingen Jacken an Kleiderhaken. Ich zählte vierzehn belegte Haken; zwischen dem vierten und fünften gab es noch einen freien.

Meiner!

Ich schluckte hart. Julius beobachtete mich anscheinend, denn er legte eine Hand auf meine Schulter und zeigte mir, dass die Sitzbank keine gewöhnliche war, sondern eigentlich eine riesige Truhe, deren Sitzfläche sich hochklappen ließ. »Praktisch, hm?«, fragte er, ohne erkennbaren Anspruch auf Reaktion. »Hier kommen deine Schuhe und Hauspantoffeln hinein. Deine Jacke hängst du an den Haken. Alles andere kommt in deinen Kleiderschrank im Zimmer, damit der Flur immer schön ordentlich ist. Anders geht das nicht bei fünfzehn Kids.«

Ich nickte, doch weil es an diesem Tag so warm war, dass ich keine Jacke trug, und meine Hausschuhe irgendwo tief in der neuen Reisetasche vergraben waren, machte ich keine weiteren Anstalten, Julius’ Erklärungen zu beherzigen.

»Eigentlich kann er übrigens sprechen«, sagte Ruby. Erst in diesem Moment fiel mir auf, dass ich seit unserer Ankunft noch keinen Laut von mir gegeben hatte. Julius’ Hand ruhte weiterhin auf meiner Schulter. Nun drückte er behutsam zu. »Schon in Ordnung«, versicherte er mir. »Alles braucht seine Zeit, nicht wahr? Und die bekommt hier jeder … Hier ist übrigens die Küche.« Julius drückte die erste Tür hinter der Treppe auf. Sofort strömte uns der Duft von frischen Waffeln entgegen.

»Hmmm«, machte Ruby, und auch mein Magen gab wie auf Kommando ein freudiges Brummen von sich.

»Mrs Whitacker macht die besten Waffeln in ganz Kalifornien, das schwöre ich, so wahr ich hier stehe«, behauptete Julius in feierlichem Ton.

Die besagte Mrs Whitacker stand mit dem Rücken zu uns am Waffeleisen, eine riesige Schüssel Teig auf der einen Seite neben sich und auf der anderen einen ebenso riesigen Stapel dampfender Waffeln. Ihre Haltung war die einer alten Frau mit leicht rundlichem Rücken und eingesunkenen Schultern. Sie trug ein blau geblümtes Hängekleid mit einer vorgebundenen Schürze. Die grauen Haare waren zu einem dicken Haarknoten im Nacken gedreht, der mich spontan an das Vogelnest erinnerte, das ich als kleiner Junge unter einem knorrigen Haselnussbaum gefunden und monatelang heimlich in meinem Wandschrank aufbewahrt hatte.

»Mrs Whitacker ist unsere Köchin und so etwas wie die gute Seele dieses Hauses«, erklärte Julius. »Nur leider sind ihre Ohren nicht mehr die besten, und ihr Hörgerät kann sie auf den Tod nicht ausstehen. Also wundere dich nicht, wenn wir die Gute etwas lauter ansprechen, in Ordnung?«

Gerade wollte ich nicken, da erhob Julius tatsächlich seine Stimme: »Mrs Whitacker, unser neuer Junge ist da, Jonah Tanner!«

Wir verharrten ein, zwei Sekunden, doch Mrs Whitacker drehte sich nicht zu uns herum und zeigte auch sonst keine Reaktion. In aller Seelenruhe löste sie die fertig gebackene Waffel aus dem Eisen, legte sie auf den Stapel zu den anderen und bestäubte sie mit Puderzucker. Julius warf mir einen Verstehst du, was ich meine-Blick zu, während Ruby sich offenbar nur mit Mühe ein Lachen verkniff. Zumindest schloss ich das aus dem seltsamen Glucksen, das hinter mir ertönte. Julius durchquerte die geräumige Küche, legte der alten Dame die Hand auf die Schulter und holte tief Luft. »Mrs Whitacker, der neue Junge ist angekommen!«, rief er.

Dieses Mal nickte sie und krächzte: »Jonah Tanner, ja, ja. Kein Grund, so zu schreien, Julius, um Himmels willen.« Sie führte mit leicht zittriger Hand die Kelle mit dem Teig zum Waffeleisen und verteilte ihn langsam darauf. Erst als sie das Eisen sorgsam geschlossen hatte, wandte sie sich Ruby und mir zu.

Ich weiß noch, wie groß meine Verwunderung war. Denn bei Julius’ Beschreibung hatte ich mir ein Großmütterchen mit herzlichen Gesichtszügen und gütigem Lächeln vorgestellt. Mrs Whitacker sah jedoch irgendwie ziemlich … ja, vergrämt aus. Ihre Lippen waren schmal, und sie presste sie fest zusammen, fast so, als täte ihr etwas weh. Sie taperte langsam auf mich zu und betrachtete mich aus schmalen, rot geränderten Augen. »Hoffentlich weißt du dich gut zu benehmen, Junge«, war das Erste, was sie zu mir sagte. Und dann: »Kirschen oder Preiselbeeren?«

»Wie … w-wie bitte?«, stammelte ich und ärgerte mich im selben Moment darüber, dass der Schreck mein altes Problem zutage beförderte und mich wieder stottern ließ.

»Na, auf deine Waffeln?«

»Kirschen … bitte.«

Sie nickte und wandte sich wieder ab. »Dann koche ich noch ein Glas Kirschen für dich auf. Bisher habe ich nur Preiselbeeren, aber heute ist ja schließlich dein großer Tag, nicht wahr?«

»Preiselbeeren sind auch toll!«, rief ich schnell, obwohl ich Preiselbeeren wirklich hasste. Aber Mrs Whitacker schien mich nicht mehr zu hören, jedenfalls ließ sie sich nicht weiter von ihrer Arbeit abhalten. Und so verließen wir die Küche wieder, ohne dass die alte Dame Ruby auch nur eines Blickes gewürdigt hätte.

»Du wirst sie lieben lernen, auch wenn sie ein wenig eigen ist«, versicherte mir Julius und zwinkerte aufmunternd. »Mrs Whitacker arbeitet schon so lange für das Heim, dass ich es mir ohne sie gar nicht vorstellen kann. Und für sie ist es umgekehrt scheinbar ebenso undenkbar, denn sie weigert sich Jahr für Jahr, endlich in den wohlverdienten Ruhestand zu gehen. So, jetzt ist es aber wirklich an der Zeit, dass du die anderen Kinder kennenlernst. Sie machen gerade ein paar Schulübungen, nur deshalb ist es hier so ruhig.«

»In den Ferien?«, fragte ich mit plötzlich sehr belegter Stimme.

»Nun, wie Ruby dir bestimmt schon erklärt hat, werdet ihr hier im Haus unterrichtet, von meiner Kollegin Tammy und mir. Und da wir innerhalb der Schuljahre nicht so streng an den Lehrplänen festhalten, wie es an staatlichen Schulen üblich ist, haben wir in den Ferien unsere Freitagsregelung. Jeden Freitag lernen wir Betreuer ganz individuell mit den Kindern in den Fächern, die noch Probleme bereiten.«

»Werde ich also nie wieder … auf eine richtige Schule gehen?« Mir wurde ganz schlecht bei der Vorstellung, und plötzlich fühlte ich mich wie ein Gefangener. Die alten Bodendielen ächzten unter unseren Schritten, und die Geräusche hinter der dunklen Eichentür wirkten immer bedrohlicher, je näher wir kamen.

»Keine Bange, Jonah«, versuchte Julius mich zu beruhigen. »Es wird vielleicht ein bisschen dauern, aber gemeinsam kriegen wir schon raus, welcher Weg der beste für dich ist. Und den werden wir dich gehen lassen, versprochen. Wir wissen von deiner künstlerischen Begabung und überdurchschnittlichen Intelligenz und freuen uns darauf, dich und deine Talente zu fördern.«

»Genau deshalb wollte ich auch kein anderes Heim für dich«, warf Ruby schnell ein.

Julius nickte. »Ja, aber sollte uns das nicht wie geplant gelingen, dann … Nun, es gab natürlich auch schon Kinder in diesem Haus, die eine öffentliche Schule besucht haben. Und auch jetzt, in den Ferien, nehmen wieder einige Kids an Freizeitprogrammen teil und fahren für ein paar Wochen in verschiedene Camps. Aber zunächst einmal müssen wir uns richtig kennenlernen, dann findet sich alles andere schon, du wirst sehen.«

Julius’ Worte spendeten ein wenig Trost, also versuchte ich mich an einem Lächeln, das sich allerdings eher nach einer Grimasse anfühlte, so viel Mühe kostete es mich.

»Eine Sache solltest du aber noch wissen, bevor wir diesen Raum betreten«, wisperte er, und das klang beinahe verschwörerisch. »Keiner hier, außer uns Betreuern natürlich, kennt deine Geschichte. Und wir werden den anderen Kindern genauso wenig davon erzählen, wie du etwas über ihre Vergangenheit von uns erfahren wirst. Es liegt nämlich allein bei euch, wem ihr euch anvertrauen wollt und wem nicht. In Ordnung?«

»Ja.«

»Okay. Mit allem anderen, unseren Sozialregeln und der Hausordnung, mache ich dich später vertraut. Jetzt darfst du die anderen erst einmal von ihrem heutigen Unterricht erlösen.« Julius grinste und drehte mich wieder der dunklen Holztür zu. »Allein dafür werden sie dich schon lieben, glaub mir!« Mit sanftem Druck schob er mich über die Schwelle zum Gemeinschaftsraum.

Vierzehn Kinder unterschiedlichen Alters hielten abrupt in ihren Bewegungen inne und starrten mich an. Ich spürte, wie mein Herz immer kräftiger und schneller pochte. Das Blut schoss mir in die Wangen und machte auch vor meinen Ohren nicht halt. Schlagartig wurde mir so heiß, dass die Narbe an meinem Oberschenkel wieder brannte und ich mit schweißfeuchten Händen über die Seiten meiner Shorts rieb.

»Kinder, das ist Jonah Tanner«, stellte Julius mich vor. »Ihm habt ihr es zu verdanken, dass eure Lernzeit heute eine knappe Stunde eher als gewohnt endet.«

Bücher und Hefte klappten zu, und zugleich ging ein freudiges Raunen durch die Gruppe der Kinder, die nicht etwa geordnet an Tischen saßen, wie in einem Klassenraum, sondern kreuz und quer verteilt. Zwei Jungen, die etwa in meinem Alter sein mussten, fläzten gemütlich nebeneinander auf einem der drei Sofas. »Ich dachte, der wäre schon dreizehn«, bemerkte der eine (ein Rothaariger mit ziemlich großen abstehenden Ohren), und auch der andere Junge zog irritiert die Nase kraus. Es war nur ein geflüsterter Kommentar, der vermutlich allen anderen entging, mich aber prompt noch stärker erröten ließ.

Ich war mir meiner Körpergröße – oder eher meiner fehlenden Körpergröße – ohnehin ständig bewusst. Als ich noch meine alte Schule besucht hatte, war mein kindliches Aussehen der Aufhänger für die immer wiederkehrenden Hänseleien meiner Mitschüler gewesen. Die wenig rühmliche Bezeichnung kleinwüchsiger Klugscheißer hatte sich schließlich durchgesetzt, und es war mir weiß Gott nicht leichtgefallen, Freunde zu finden. Ach, was sage ich, es war so gut wie unmöglich gewesen. Umso mehr schmerzten die geflüsterte Bemerkung des Rothaarigen und das verständnislose Schulterzucken des anderen Jungen.

Schnell ließ ich meinen Blick weiterschweifen. Das eindeutig jüngste Kind war ein Mädchen von sieben oder vielleicht acht Jahren, das auf einem Sitzkissen vor dem Couchtisch Platz genommen hatte und mir ein süßes, wenn auch zahnlückiges Lächeln schenkte.

»Wollt ihr Jonah nicht begrüßen?«, tadelte Julius.

»Hallo Jonah!«, kam es auf sein Kommando hin von allen Seiten.

»Hi«, entgegnete ich so heiser, dass ich mich direkt im Anschluss räusperte. Eine junge Frau mit kurzen schwarzen Haaren und beinahe ebenso dunklen Augen kam auf mich zu und stellte sich mir freundlich als Tammy vor. Sie war neben Julius die zweite von insgesamt drei Betreuern. Der dritte, Greg, sprang nur aushilfsweise ein.

»Milow, kümmerst du dich ein wenig um Jonah?«, bat Tammy. Ich sah, dass sie eine dieser Zahnfehlstellungen hatte, bei denen der Unterkiefer zu weit vorstand und das Kinn dadurch etwas länger wirkte als bei anderen Menschen. Aber der Ausdruck ihrer Augen war unvergleichlich sanft, und obwohl man unsere Heimbetreuerin wirklich nicht als Schönheit bezeichnen konnte, machte sie sofort einen sympathischen Eindruck auf mich. Mit angehaltenem Atem verfolgte ich ihren Blick quer durch den großen Raum. Milow, das war mein Zimmernachbar.

In einer Ecke neben dem Kaminsims saß ein etwa gleichaltriger (wenn auch wesentlich größerer) Junge in einem gewaltigen grünen Ohrensessel und nickte eifrig. Als er sein Buch zur Seite legte, sich erhob und auf mich zusteuerte, erkannte ich eine lange Narbe, die sich auf Höhe seines linken Wangenknochens bis fast zu seinem Ohr und von dort aus über die Unterkieferlinie bis genau zur Mitte seines Kinns zog. Wie eine Sieben, dachte ich, und mein Blick heftete sich förmlich an diese blassrote Linie in Milows Gesicht, die mir so schonungslos ins Bewusstsein rief, dass nicht nur ich, sondern jedes hier anwesende Kind mit seiner eigenen tragischen Geschichte zu kämpfen hatte. Für einige Sekunden überrollte mich diese Erkenntnis, und der permanente Schmerz in meiner Brust loderte dermaßen heftig auf, dass ich nur mit Mühe dem heftigen Drang beikommen konnte, mir die Faust gegen die Rippen zu pressen.

Milows lustige hellgrüne Augen, das wirre orangebraune Haar und die unzähligen Sommersprossen, die um seine breite, blasse Nase förmlich zu tanzen schienen, bemerkte ich erst, als er schon unmittelbar vor mir stand und mich ansprach. »Hi Jonah. Soll ich dir gleich unser Zimmer zeigen?«

»Das ist eine tolle Idee«, antwortete Tammy an meiner Stelle.

Milow straffte das T-Shirt über seinem rundlichen Bauch und nickte in Richtung Tür. »Dann komm! Ich habe deine Hälfte des Schranks schon freigeräumt. Sei bloß froh, dass du da noch nicht dabei warst. War ganz schön eklig, das kann ich dir sagen. Oh! Wir haben übrigens ein Hochbett. Wenn du magst, kannst du ruhig oben schlafen, davon hab ich eh die Nase voll. Ich treffe die Stufen der Leiter oft nicht richtig, wenn ich nachts mal zum Pinkeln rausmuss.«

Milow plapperte einfach munter drauflos. Und die anderen schienen das von ihm gewohnt zu sein, zumal niemand lachte, verhalten kicherte oder auch nur den Kopf schüttelte.

Damals ahnte ich noch nicht, dass sich an Milows Gebrabbel in den kommenden neunzehn Jahren kaum etwas ändern und er tatsächlich mein allerbester Freund werden würde. Genauso, wie Ruby es mir vorhergesagt und dabei auf ihre jahrelange Jugendamts-Praxis vertraut hatte. Mir hingegen fehlten sowohl Vertrauen als auch Zuversicht. Bereits im Hinausgehen begriffen, warf ich Ruby einen Hilfe suchenden Blick zu und versuchte ihr mittels eindeutig nicht vorhandener mentaler Fähigkeiten ein klägliches »Lass mich hier bloß nicht allein zurück!« zu übermitteln.

Doch dann, als ich mich auf der Schwelle zum Flur noch einmal nach Ruby umdrehen wollte, sah ich plötzlich sie. Katie.

 

Natürlich kannte ich an jenem Tag ihren Namen noch nicht. Für mich war sie einfach ein fremdes Mädchen, das ganz allein auf einer Fensterbank saß und mit sehnsüchtigem Blick, so schien es mir, in den Garten hinabschaute. Sie war vielleicht zehn oder elf Jahre alt, und ich sah ihr Gesicht nur im Profil. Daher konnte ich nicht einmal sagen, ob sie wirklich so hübsch war, wie sie von der Seite betrachtet auf mich wirkte. Dennoch faszinierte sie mich auf Anhieb. Denn sie war die Einzige im Raum, die mich nicht ansah, ja, sie schien meine Anwesenheit nicht einmal bemerkt zu haben. Die Hände unter die Oberschenkel geklemmt, saß sie einfach nur da und starrte regungslos und stumm aus dem Fenster.

Unglaubliche Trübsal ging von ihrer Erscheinung aus – und plötzlich bekam ich schreckliche Angst. Ich fürchtete mich mit einem Mal so sehr vor all den Geschichten, die sich hinter diesen neuen Gesichtern verbargen. Ich erahnte Tragödien, Kummer und Leid. Unsagbares, abgrundtiefes Leid, von dem ich nicht wusste, wie ich auch das noch stemmen und mittragen sollte, wenn mein eigenes Schicksalsbündel schon viel zu schwer wog.

Für ein, zwei Sekunden betrachtete ich das stille Mädchen, das wie eine lebendige Statue auf der Fensterbank saß und dabei nicht einmal zu blinzeln schien. Und ich fragte mich, wie ich im Kreise dieser Kinder jemals wieder zurück zu einer Art Normalität finden sollte.

 

Ja, ich erinnere mich gut an meine erste Begegnung mit Katelyn Christina Williams. Denn genau in diesem Moment beschloss ich, nicht zu den seelischen Krüppeln gehören zu wollen, die hier lebten, niemals einer von ihnen zu werden. Ich wünschte mich zurück.

Zurück in ein Leben, das es nicht länger gab.

[...]

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